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Krieg in der Ukraine: Glücksmomente in der Verwüstung
Die Einwohner der ostukrainischen Stadt Huljajpole werden von der Feuerwehr versorgt
Wer von der ostukrainischen Metropole Saporischschja in die 100 Kilometer entfernte Kleinstadt Huljajpole fährt, begibt sich in eine andere Welt. In Saporischschja findet sich alles, was man in Großstädten braucht: Restaurants, Bars und Hotels, Schulen, Banken und Geschäfte, Strom und Internet.
Kaum hat man aber das Stadtgebiet verlassen, findet man sich auf einer schlechten Landstraße mit vielen Schlaglöchern wieder. Die Gegend wird dörflicher. Jetzt ist es an der Zeit, schusssichere Westen anzuziehen, die Telefone auf Flugmodus zu stellen und die Ortung auszuschalten. »Das ist zu Ihrer eigenen Sicherheit«, erklärt Julia Baryschewa, Offizierin und Pressesprecherin der Feuerwehr von Saporischschja, den Mitfahrenden im Feuerwehrwagen. »Hier sind wir nur knapp fünf Kilometer von der Front entfernt. Die Russen schießen gerne auf Menschenansammlungen.« Und die könne man am besten an einer Anhäufung von georteten Mobiltelefonen ausmachen. Alle folgen diesen Anweisungen. Als wir Huljajpole erreichen, werden die Hilfsgüter ausgeladen und der lokalen Feuerwehr übergeben. Die reicht dann die dringend benötigten Medikamente, Lebensmittel, Katzen- und Hundefutter sowie Bücher an die verbliebenen Einwohner weiter.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Kurz nach dem russischen Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 ist Huljajpole zur Frontstadt geworden. Seitdem wird sie fast täglich von russischen Raketen, Artillerie und Drohnen angegriffen. Vor dem Krieg hatte die Stadt rund 13 000 Einwohner, jetzt leben dort nur noch gut 1000 Menschen. Vor allem die Alten sind geblieben. Schon lange gibt es keinen Strom und keine Heizung mehr. Und die meisten Häuser haben inzwischen keine Fensterscheiben. Seit fast zwei Jahren ist Huljajpole weitgehend von der Versorgung abgeschnitten. Es gibt keine Geschäfte und keine Bank mehr. Niemand könnte in der Stadt ohne die Hilfsgüter überleben, die immer donnerstags von der Feuerwehr gebracht werden.
Obwohl Huljajpole schon weitgehend zerstört ist, wird es weiterhin täglich beschossen. Weder die Bewohner noch der Kommandant der Stadt, der sich mit seinem Kampfnamen »der Spanier« vorstellt, können sich erklären, warum die Russen das machen. Es gebe aber eine gewisse Regelmäßigkeit dabei, sagt der Spanier. Am meisten werde nach dem Mittagessen geschossen. Als ob die Russen lange schlafen und erst am Nachmittag zum Schießen kommen würden. Und nachts sei es besonders schlimm. Es gebe nicht eine Nacht, berichtet der Rentner Mykola, in der er keine Einschläge höre. Meistens gehe er dann mit seiner Frau Valentina in den Keller ihres Hauses. »Aber wenn mich eine Rakete direkt treffen würde, hätte ich auch im Keller keine Chance«, meint er. Da sei man lediglich vor Splittern und der Druckwelle geschützt.
»Wenn ich im Winter schlafen gehe«, berichtet Natalja, »nehme ich immer einige Flaschen mit heißem Wasser mit ins Bett.« Es sei kalt in einer Wohnung, in der schon über ein Jahr keine Scheiben mehr in den Fenstern seien. Am Anfang habe sie noch neue einsetzen lassen, wenn diese nach einem Einschlag in der Nähe mal wieder zu Bruch gegangen sind. Aber das tue sie schon lange nicht mehr. Das sei nicht nur teuer, sondern auch sinnlos. »Warum neue Scheiben einsetzen, wenn man weiß, das sie in den nächsten Wochen eh wieder zu Bruch gehen?«, fragt sie deprimiert.
An einen Umzug denkt sie aber trotzdem nicht. Wohin auch? Nirgends warte jemand auf sie. Und ein Umzug koste Geld, das sie bei einer Rente von umgerechnet rund 70 Euro nicht habe. »In Huljajpole bin ich geboren, hier ist mein Mann begraben, und hier möchte ich selbst die letzte Ruhe finden«, hat sie entschieden. Während viele gegangen sind, ist sie geblieben. »Ich habe mir meine Heimatstadt und damit meine Wurzeln erhalten. Die in Europa haben genau das verloren.« An ein Leben ohne Strom, Heizung und Waschmaschine könne man sich gewöhnen, meint sie. Nur, wenn die Russen in die Stadt kämen, würde sie gehen. »Dann ist Huljajpole nicht mehr Huljajpole.«
Diese verschlafene Kleinstadt irgendwo zwischen Saporischschja und Mariupol hat eine besondere Geschichte: Sie war mal ein anarchistisches und selbstverwaltetes Zentrum des Partisanenführers Nestor Machno. Anfang des 20. Jahrhunderts hat der vor allem unter Bauern eine Aufstandsarmee mit mehreren zehntausend Soldaten rekrutiert, die mal gegen die Rote Armee, mal gegen die mit dieser verfeindete Weiße Armee kämpfte. Die Geschichte der Rebellen war im Heimatmuseum von Huljajpole in der Sobornastraße 73 dokumentiert. Das Gebäude ist allerdings zerstört worden. Vor dem Museum ist aber noch ein historisches Maschinengewehr auf einem Wagen installiert.
»Friede den Palästen – Krieg den Hütten« war eine ihrer Parolen; »Schlagt die Roten, bis sie weiß sind, und die Weißen, bis sie rot sind« eine andere. Diese Losungen zeigen, dass die Machno-Bewegung eine dritte Kraft im russischen Bürgerkrieg war. Sie verdeutlichen, dass die Anarchisten nicht weniger gewalttätig waren als die Armeen, die sie bekämpft hatten. Im Gebiet Saporoschschja ist Machno noch immer beliebt. Sein Konterfei sieht man häufiger als die Bilder der aktuellen Leitfiguren der Ukraine, der einstigen Nationalistenführer Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch, aufgenäht auf Kleidung, als Fähnchen in Autos oder in dem Großbunker von Huljajpole.
Wer heißes Wasser will, sein Mobiltelefon aufladen muss, eine Waschmaschine braucht oder einfach mal einen heißen Kaffee trinken und in halbwegs gemütlicher Atmosphäre mit anderen Menschen reden möchte, der geht in den städtischen Bunker. Eine lange Treppe in einem mehrstöckigen Reihenhaus führt in die unterirdischen Räume, in denen das Leben pulsiert wie in einer Kleinstadt. In einem Raum befinden sich Sitze wie in einem Kino, aufgestellt vor einem großen Fernsehbildschirm. In einem anderen laufen fünf Waschmaschinen, und in einem dritten stehen die Leute geduldig Schlange vor einem Geschäft, in dem die Auswahl zwar bescheiden ist, aber dafür sind alle angebotenen Artikel für die Bewohner der Stadt kostenlos. Hier kann man ausruhen, wenn es oben wieder einschlägt, sich Filme und Nachrichten ansehen. Hier in der Tiefe ist man ziemlich sicher.
Die Rentner Mykola und Valentina sind aufgeregt, weil die Feuerwehrleute wieder kommen. Mit Tränen in den Augen gehen sie auf die behelmte Anna zu und nehmen das Paket entgegen: Bücher, Nudeln, Medikamente, Dosenfleisch, Tee, Kaffee und Zucker sind darin. Schutzsichere Westen und Helme können sie sich nicht leisten. Jede Nacht sitzen sie in ihrer Wohnung und hoffen, dass die Einschläge nicht eines Tages ihr Haus treffen. Vor seiner Pensionierung habe er in einer Gießerei gearbeitet, berichtet Mykola. Danach habe er sich als Kleinunternehmer durchgeschlagen. Doch jetzt lebe er von seiner schmalen Rente, umgerechnet rund 70 Euro. Und von den Hilfslieferungen. Er freut sich auch über das Holz zum Heizen, das sie von der Feuerwehr immer in ausreichenden Mengen erhalten.
Mit der Rente habe er ein Problem, erzählt er. Wenn er die holen wolle, müsse er zu Fuß in ein drei Kilometer entferntes Nachbardorf gehen. Zwar sei der Weg nicht weit, aber auch der Abstand zur Front beträgt an diesem Abschnitt nur drei Kilometer. Und auf seinem Weg gebe es kaum mehr einen Baum, man bewege sich wie auf einem Präsentierteller. Für die russischen Truppen wäre er ein leichtes Ziel, und jedes Mal hofft er, dass sie ihn als Zivilisten erkennen.
Seine Enkelkinder seien schon zwei Jahre nicht mehr in Huljajpole, erzählt er. Auch die anderen Kinder habe man gleich im März 2022 an einen sicheren Ort gebracht. In seiner früher belebten Straße wohnen jetzt gerade einmal fünf Menschen.
Antonina ist ebenfalls Rentnerin. Sie hat in Huljajpole eine besondere Aufgabe: Zehn Hunde und nicht wenige Katzen suchen sie regelmäßig auf, und diese füttert sie. Das Hunde- und Katzenfutter erhalte sie von der Feuerwehr, erzählt sie. Als sie die Fernsehkamera eines ukrainischen TV-Kanals sieht, die sich auf sie zubewegt, weicht sie dieser aus. Sie will wieder in den Keller zurück. »Ich kann nicht gut sprechen, ich kenne mich auch in der Politik nicht so aus, nehmen Sie doch lieber andere Menschen für Ihr Interview«, versucht sie den Reporter abzuwimmeln. Doch der ist hartnäckig. Es reiche doch, wenn sie einfach erzähle, was so los sei – und am Ende sage, dass sie der ukrainischen Armee dankbar sei. Okay, sagt Antonina, das könne sie machen.
Am 9. Februar hat Tamara ihren 86. Geburtstag gefeiert. Als Kind hat sie schon den Zweiten Weltkrieg erlebt. Und jetzt das. Sie versucht, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Tagsüber kümmere sie sich um ihre Ziege, ein paar Hühner, Nutrias und das Gemüse im Garten. Und in der Nacht schlafe sie so fest, dass sie die Geschosse nicht höre. »Ich habe mein Leben in Gottes Hand gelegt. Und er hilft mir, gut zu schlafen.« Auch sie erhält nur etwa 70 Euro Rente. Nie hatte sie eine feste Arbeit gehabt. Mal war sie in einer Fischfabrik tätig gewesen, dann hatte sie in einer psychiatrischen Klinik ausgeholfen oder auf dem Markt Erzeugnisse aus ihrem Garten verkauft. Doch sie ist fröhlich und hat Vertrauen in die Zukunft. Hungern werde sie jedenfalls nicht, sagt sie. Das garantiere die Feuerwehr.
Kurz nach 15 Uhr wird der Beschuss der Stadt wieder stärker. Zeit zum Aufbruch. Die Feuerwehr und ihre Gäste sind zwei Stunden später in einer funktionierenden Großstadt. Jene, die zurückbleiben, stellen sich auf eine weitere Nacht mit Beschuss ein.
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