Saporischschja: Siegeszuversicht und Pragmatismus nahe der Front

In Saporischschja schaut man sehr unterschiedlich auf den Krieg, einen russischen Sieg will aber niemand

  • Bernhard Clasen, Saporischschja
  • Lesedauer: 4 Min.
Die »Allee der Helden« erinnert an die gefallenen Einwohner von Saporischschja.
Die »Allee der Helden« erinnert an die gefallenen Einwohner von Saporischschja.

Wer sich in der ostukrainischen Industriemetropole Saporischschja verläuft, ist selber schuld. Fast elf Kilometer lang ist die zentrale Straße, der Sobornyj-Prospekt. Und wenn man nach einer Adresse fragt, wird erklärt, wie man vom Prospekt zum Ziel kommt. Die Architektur der Stadt ist sowjetisch, Straßen, die die Namen von Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch tragen, gibt es hier nicht. Schuchewitsch hatte als Kommandeur des Bataillons Nachtigall der deutschen Wehrmacht unterstanden. Stepan Bandera kollaborierte zeitweise mit den Nationalsozialisten, seine Organisation Ukrainischer Nationalisten verübte Massaker in Polen. Hin und wieder indes sieht man rote Fähnchen mit dem Konterfei des Anarchistenführers Nestor Machno.

Ganz in Gelb steht die Rocksängerin Oxana auf der Bühne in einem der Konzertsäle der 700 000-Einwohner-Stadt. Ihr Partner an der Gitarre ist ganz in Blau gekleidet. Während sie patriotische Lieder singen, läuft auf der großen Leinwand eine Diashow. Mal sieht man Hubschrauber, mal Bilder eines Häuserkampfes und immer wieder Bilder des brennenden Kreml. Die Message ist eindeutig: Die Ukraine wird siegen, wir tragen den Krieg bis weit nach Russland. Hier unter den 200 geladenen Gästen, viele von ihnen arbeiten für den Staat oder geben sich als Aktivisten zu erkennen, zweifelt niemand an einem Sieg der Ukraine in diesem Krieg mit Russland.

Propagandashow in Gelb und Blau

Vor dem Saal zeigt Oxanas 13-jähriger Sohn Max seine Werke: Es sind Bilder, die eine Befreiung der Heimatstadt von Oxana und Max, Berdjansk, Kämpfer und Kämpferinnen der ukrainischen Streitkräfte und Visionen einer siegreichen Ukraine zeigen. »Ich habe mir vor Kurzem einen Gebrauchtwagen gekauft«, berichtet Julia Baryschewa, Pressesprecherin der örtlichen Feuerwehr. »Und das wichtigste Kriterium bei der Wahl des Wagens war, dass er ein Schiebedach haben muss. Das brauche ich nämlich, damit ich am Tag des Sieges durch Saporischschja fahren kann, stehend im Auto, mit der ukrainischen Fahne in der Hand.«

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Ganz in Gelb leuchten auch die mannshohen Plakate vor der Stadtverwaltung auf dem Sobornyj-Prospekt. Die in der »Allee der Helden« abgebildeten Männer sind nur ein Teil der Einwohner von Saporischschja, die in diesem Krieg ihr Leben verloren haben. Die Plakate rütteln auf, anteilnahmslos an ihnen vorbeizugehen, ist unmöglich.

Pragmatismus bei Bier und Zigarette

Im kleinen Supermarkt am Stadtrand von Saporischschja mit dem schönen Namen Bridge gibt es alles, was man zum Leben braucht: Fisch, Zigaretten, Alkohol, Brot, Süßigkeiten, Obst und Gemüse. Hier kauft man das Bier in Zweiliterflaschen, die man selber mitbringt – und in einer Halbliterflasche, zum Soforttrinken. »Jetzt bin ich schon zwei Wochen hier am Arbeiten«, schimpft eine übergewichtige Verkäuferin. »Ich habe keine Zeit für meine Kinder, keine Zeit, woanders einkaufen zu gehen, außer eben im Bridge. Jeden Tag von 7 Uhr morgens bis 9 Uhr abends stehe ich hier«, sagt sie wütend und geht mit einer Zigarette vor die Tür.

Dort prangt ein großes Schild an der Ecke neben dem Eingang. »Der Genuss von Alkoholika ist hier verboten.« Und genau hier öffnen viele ihre Halbliterflasche Bier, weil sie mit dem Trinken nicht warten können, bis sie zu Hause sind. Nur die Verkäuferin trinkt nicht mit.

»Das Dorf Robotino wird von den Russen umzingelt. Da könnte sich die Geschichte von Awdijiwka wiederholen. Und auch Orichiw wird von den Russen so heftig wie schon lange nicht mehr beschossen«, sagt eine Frau mit schwarzen Haaren und einer Zigarette in der Hand. Sie glaubt, dass die Russen weiter vordringen werden. Noch hört man das Donnern der Artillerie nur, wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung kommt.

Gedanken über Russland

»Wirtschaftlich würde es uns bei den Russen besser als bei den Ukrainern gehen«, meint eine andere Frau, die zusammen mit ihrer Freundin eben die Halbliterplastikflasche mit dem dunklen Bier geöffnet hat. Sie und ihre Freundinnen freuen sich über den neuen Gesprächspartner mit dem seltsamen Akzent, den sie noch nie zuvor in dieser Ecke gesehen haben.

»Länder wie Deutschland haben Jahre für den Wiederaufbau nach dem Krieg gebraucht, die Ukraine wird da wohl noch Jahrzehnte brauchen«, meint die Frau. Da ist man mit Russland einfach besser dran, bekommt bessere Renten, bessere Medizin.» Sie habe eine Verwandte, die nach Russland umgezogen sei. Und die habe sich vor Kurzem einer Tumor-Operation unterzogen: «Völlig kostenlos.» Das gebe es in der Ukraine nicht. Da verliere man, wenn man Krebs hat, seine gesamten Ersparnisse. «Nun ja», beschließt sie das Gespräch mit dem Mann mit dem seltsamen Akzent, «wollen wir mal hoffen, dass die Russen Saporischschja nicht einnehmen. Denn dann werden Sie uns wohl nicht noch einmal besuchen kommen.»

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