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Das Patriarchat ist für alle schlecht

Auch Männer sind von Gewalt betroffen. Ein Hilfetelefon ibietet Unterstützung in Krisensituationen

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 6 Min.
Im öffentlichen Raum sind Männer sogar häufiger von Gewalt betroffen als Frauen – die Täter sind allerdings meist ebenfalls männlich
Im öffentlichen Raum sind Männer sogar häufiger von Gewalt betroffen als Frauen – die Täter sind allerdings meist ebenfalls männlich

Björn Süfke arbeitet bei »man-o-mann« in Bielefeld. Die ostwestfälische Beratungsstelle ist eine von wenigen ihrer Art in Deutschland. »Spezifische, auf männliche Probleme zugeschnittene Angebote sind leider Mangelware«, bedauert der Psychologe und Buchautor. Denn gefördert werden hierzulande vorrangig Einrichtungen der Frauen-, Familien- und Erziehungsberatung. Dass auch das angeblich »starke Geschlecht« manchmal Hilfe braucht, hat sich in der Praxis der Sozialarbeit noch nicht überall durchgesetzt.

Süfke ist einer der Wegbereiter des in Bielefeld ansässigen, aber bundesweit erreichbaren »Männerhilfetelefons«. Das Angebot wird von der nordrhein-westfälischen Landesregierung in Kooperation mit vier weiteren Bundesländern (Bayern, Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz) finanziell unterstützt. Das Gesamtbudget beträgt rund 400 000 Euro pro Jahr, wegen der geringen Sachkosten fließt das Geld ganz überwiegend in die Honorare für die Berater.

Die Nachfrage war von Anfang an groß – zumal der Projektstart im April 2020 mit dem ersten Corona-Lockdown zusammenfiel und deshalb Unterstützung in Präsenz zeitweise nicht mehr möglich war. Aus ganz Deutschland und sogar aus Nachbarländern kommen seither die Anrufe. Das Team besteht nicht nur aus den Mitarbeitern der Bielefelder Beratungsstelle. Hinzu kommen weitere Fachkräfte aus Psychologie, Pädagogik und Therapie in anderen Städten, darunter sind auch einige (wenige) Frauen.

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»Man-o-Mann«, schon in den 1990er Jahren etabliert, hatte innerhalb Nordrhein-Westfalens früh eine Pionierfunktion. So ist es kein Zufall, dass hier die Idee für das Hilfetelefon entstand. »Wir wollen über die Hotline sowie über Mail- und Chatkontakte jene Männer ansprechen, die in erreichbarer Nähe kein entsprechendes Angebot nutzen können«, erläutert Björn Süfke. Gemeint sind Betroffene in ländlich geprägten Gebieten, aber auch in jenen (nicht wenigen) urbanen Regionen, wo trotz hohen Bedarfs keine auf männliche Krisensituationen ausgerichtete Beratungsstelle existiert.

Ständig belegte Frauenhäuser

Inhaltlicher Schwerpunkt des Hilfetelefons – und »einziger Grund« für die staatliche Förderung, wie Süfke betont, ist das Thema Gewalt. Bisher wurden Männer in diesem Kontext fast ausschließlich als Täter wahrgenommen. Die ohnehin dürftigen Angebote beschränkten sich auf »Anti-Gewalt-Trainings« für diese schwierige Zielgruppe. Für das private Umfeld hatte diese klare Akzentsetzung auch ihre Berechtigung. Denn nach den Daten des Bundeskriminalamtes sind hier vier von fünf Betroffenen weiblichen Geschlechts. Allerdings gibt es laut Polizeistatistik immerhin auch knapp 20 Prozent männliche Opfer – was lange tabuisiert wurde. Im öffentlichen Raum sind Männer sogar deutlich mehr von Gewalterfahrungen betroffen als Frauen – die Täter sind allerdings meist ebenfalls männlich.

Das Thema ist schon deshalb so kontrovers, weil der Begriff in Politik wie Wissenschaft sehr unterschiedlich definiert wird. »Gewalt hat viele Gesichter« heißt es treffend auf der Webseite des Männerhilfetelefons. Schwere körperliche Verletzungen im häuslichen Bereich erleiden eindeutig mehr Frauen. Viele weibliche Betroffene flüchten vor ihren Männern und suchen, oft gemeinsam mit ihren Kindern, Schutz in Frauenhäusern. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es 64 solche Einrichtungen mit insgesamt über 600 Plätzen, die ständig belegt sind. Auch anderswo reichen die Kapazitäten bei weitem nicht aus.

Je mehr das Wort Gewalt auf Demütigung, Bedrohung, Beschimpfung, umfassende Kontrolle oder andere psychische Angriffe ausgedehnt wird, desto mehr nähern sich die Erfahrungen von Frauen und Männern an. Björn Süfke und sein Beratungsteam hören am Hilfetelefon ständig erschütternde Geschichten. Neben Gewalterlebnissen im engeren Sinne geht es zum Beispiel um die Folgen von Trennung und Scheidung, um sexuellen Missbrauch in Kindheit und Jugend, um massive gesundheitliche Probleme oder um Depressionen bis hin zu Suizidabsichten.

Häufig sind lange Gespräche notwendig, um einen persönlichen Zugang und Vertrauen herzustellen. Manche Männer melden sich immer wieder auf der Hotline, sind unter den Beratern als »Daueranrufer« bekannt. Das zeigt die Grenzen dieser in der Sozialarbeit als niedrigschwellig bezeichneten Angebote auf: Telefonische Unterstützung kann zwar kurzfristig Hilfe bieten und Anstöße für persönliche Veränderung geben, aber keinen langfristigen Therapieprozess ersetzen.

Kontroversen in der Forschung

Das Institut für empirische Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg hat das Männerhilfetelefon wissenschaftlich evaluiert. Der im April 2023 veröffentlichten Expertise zufolge steigerten sich die Kontaktaufnahmen von 1480 im Jahr 2020 auf 4498 im Jahr 2022. Seither sind die Zahlen in etwa stabil, die Auswertung erklärt das mit der inzwischen wieder einfacher möglichen Hilfesuche in Präsenz nach dem Ende der Pandemie. Der Bedarf an Männerberatung sei aber vermutlich noch »sehr viel größer, als bisher sichtbar wird«, heißt es in der Studie. Es gebe ein erhebliches Dunkelfeld, wichtige Zielgruppen würden noch zu wenig erreicht. So sind Männer mit Migrationshintergrund bislang deutlich unterrepräsentiert. Studienleiter Ralf Puchert fordert daher den Aufbau »mehrsprachiger Beratungsangebote«.

Über die Auswirkungen von Gewalt, die sich gegen Männer richtet, ist in Deutschland in den letzten Jahrzehnten nur wenig geforscht worden. 2013 befragte das Robert-Koch-Institut (RKI) erstmals im Rahmen eines bundesweiten Gesundheitssurvey 6000 Männer zwischen 18 und 64 Jahren zu ihren Erfahrungen. Frauen, so lautet ein zentrales Ergebnis, seien in Partnerschaft und Familie zwar »tendenziell häufiger Opfer«, aber durchaus auch »Täterinnen von körperlicher und psychischer Gewalt im häuslichen Bereich«.

Beim Nationalen Netzwerk Frauen und Gesundheit und bei feministisch orientierten Wissenschaftlerinnen stieß diese Behauptung auf Widerspruch. Die Herangehensweise der Studie sei »genderunsensibel« und verfolge ein »einseitiges Erkenntnisinteresse«, monierte die Soziologin Monika Schröttle, die im Auftrag des Bundesfamilienministeriums zur Gewalt gegen Frauen geforscht hat. So habe es »keine differenzierte Erfassung von Schweregraden« gegeben. Es bleibe unklar, »welche konkreten Handlungen den Opfern widerfahren sind«: ob es sich zum Beispiel »um eine einmalige leichte Ohrfeige gehandelt hat oder um Verprügeln oder gar Waffengewalt«. Zudem würden sexuelle Gewalt und sexuelle Belästigung in der Expertise »vollständig ausgeblendet«.

Wegen dieser methodischen Mängel, argumentierte Schröttle, sei das RKI zu anderen Ergebnissen gekommen als die meisten internationalen Studien. Die »kumulativen Effekte von häuslichen Gewalterfahrungen« seien »in hohem Maße geschlechterdifferent«. Weniger wissenschaftlich ausgedrückt: Es macht einen gravierenden Unterschied, ob Frauen ihre Partner anschreien oder provozieren, vielleicht auch mal schubsen – oder aber ob Männer ihre Partnerinnen krankenhausreif schlagen. Ein sehr weit gefasster Gewaltbegriff verzerrt die Ergebnisse. Daraus, so Schröttles Schlussfolgerung, ergebe sich die Legitimation für den weiterhin deutlich höheren Hilfebedarf weiblicher Opfer.

Die RKI-Studie wurde als Reaktion auf die Kritik überarbeitet. Die beteiligten Wissenschaftler räumten Versäumnisse ein, allerdings offenbarten sich auch blinde Flecken in der frauenpolitischen Diskussion. Denn auch männliche Opfer benötigen unabhängig von ihrem Geschlecht Unterstützung. Auch sie brauchen Fluchtpunkte, wo sie zur Ruhe kommen und sich über ihre Zukunft klar werden können. Hilfs- und Beratungsangebote für Männer, die sich genderdialogisch und nicht konfrontativ gegen Frauen aufstellen, sind wie das Bielefelder Modellprojekt durchaus förderungswürdig.

Das Männerhilfetelefon ist rund um die Uhr erreichbar unter der Nummer 0800-1239900.

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