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Philipp Felschs Habermas-Porträt: »Nur noch straight«
»Der Philosoph« zeichnet Jürgen Habermas als großen Intellektuellen und erklärt dessen Denken als Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung
Theorie bedeutet, »die intellektuelle Silhouette der eigenen Generation deutlicher hervortreten zu lassen«, schreibt Philipp Felsch. Nicht weniger darf man von dem Kulturhistoriker erwarten, der mit seinen herausragenden Porträts der deutschsprachigen Philosophie fast ein eigenes Genre geschaffen hat. Stets stehen dabei nicht einzelne Personen, sondern Landschaften des Denkens in ihrer ganzen Breite im Vordergrund. Das gilt auch für sein neues Buch über Jürgen Habermas. Hinter dem beinahe rührseligen Umschlagbild des zum Wohnzimmerfenster hinausblickenden Philosophen verbirgt sich keine Homestory und keine versöhnliche Retrospektive, sondern eine konfliktgeladene intellektuelle Nachkriegsgeschichte Deutschlands.
Habermas ist immer noch der wichtigste Intellektuelle der Bundesrepublik. Er hat eine Position inne, für die auch keine Nachfolge in Sicht ist. Das hat einerseits viel damit zu tun, dass die Nachfrage nach dem Typ des Universalgelehrten insgesamt sinkt. Gefragt sind heute eher Spezialist*innen. Deren Expertise ist dann oft so kleinteilig aufgestellt, dass es schwerfällt, sie wieder in eine Perspektive auf die Gesellschaft als Ganzes zurückzuübersetzen – sei es nur auf nationaler Ebene, von der globalen ganz zu schweigen, die sich mehr denn je dagegen sperrt, sich einheitlich auf den Begriff bringen zu lassen. Andererseits sind Zeitungen, Buchverlage und Fernsehunternehmen aufgrund ihrer digital stark veränderten Arbeitsweise deswegen auch kaum noch daran interessiert, das Format des großen Philosophen zu reproduzieren. Will man diese Veränderung nicht romantisch verklären, dann kommt es darauf an, das Verhältnis der akademischen Philosophie zu ihrer medialen und politischen Wirksamkeit nüchtern zu bilanzieren. Niemand konnte das trennschärfer und genauer als Habermas selbst.
Ernst gemeinter Idealismus
Den »Abschied vom Tiefsinn«, wie Felsch es zitiert, nannte Habermas einmal genau diese Anforderung, Philosophie und Gesellschaftskritik aus dem Bereich der Spekulation herauszuholen und ans Licht der transparenten und zwischenmenschlich vermittelbaren Argumentation der Wissenschaft zu rücken. Nicht mehr Tiefsinnigkeit, höhere Einsichten oder die Autorität der philosophischen Profis, sondern das Schritt für Schritt nachvollziehbare, rationale Argument sollte sich durchsetzen. Erst im Diskurs, im Ernsthaft-miteinander-Reden, wandelt sich »Wahrheit« von einer institutionellen Zumutung, zu einer positiv gelebten Erfahrung. Mit Habermas selbst gesprochen: »Immer wenn wir meinen, was wir sagen, erheben wir für das Gesagte einen Anspruch, dass es wahr oder richtig oder wahrhaftig ist; damit bricht ein Stück Idealität in unseren Alltag ein«.
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Wie wichtig ein solcher Kern von ernst gemeintem Idealismus für ein gelingendes gesellschaftliches Leben ist, lässt sich wohl erst im Nachhinein, von seinem Ende her ermessen, wenn er aus dem politischen Alltag verschwindet und sich in ein zynisches Bewusstsein zurückverwandelt. Doch bis heute dreht sich die Diskussion auch darum, ob diese heikle Operation, dem Alltag eine idealistische Vernunft einzupflanzen, überhaupt möglich oder wünschenswert war.
Denn die Einwände gegen ein solches Projekt waren und sind unzählig: Geht es in der Politik nicht immer um Machtverhältnisse, die sich schon aus Prinzip nicht vernünftig auflösen lassen? Ist rationale Politik nicht ein Widerspruch in sich? Ist kämpferisches, politisches Handeln nicht auf einen Überschuss kreativer Energie angewiesen, der gerade im trüben Wasser des irrationalen Tiefsinns entsteht? Der zwanglose Zwang des besseren Arguments bleibt dagegen doch eigentümlich zahnlos und wird am Ende höchstwahrscheinlich in den Mühlen der Institutionen bis zur Unkenntlichkeit zerrieben. Der oftmals »kontrafaktischen Unterstellung«, wie es Habermas nennt, mein Gegenüber könnte es genauso ernst meinen wie ich, wird dann ein bürgerlicher Selbstbetrug unterstellt. Kann man der Sprache der Politik wirklich alles Metaphorische und Hyperbolische herausschneiden, sodass am Ende »nur noch ›straight‹«, also mit einer geradlinigen, transparenten Rationalität entschieden wird? Und wäre das eine Welt, in der wir überhaupt noch leben wollten?
Ohne Tricks und doppelten Boden
Ja, sagt Habermas – und verteidigte stets ein in diesem Sinne ganz klassisches Programm der »massenhaften Aufklärung«. Und zwar nicht nur gegen wiederaufkeimende Nationalmythen der neuen Rechten, sondern auch gegen linke Theorien, die sich gegen eine rationale Formulierung ihrer Inhalte sperrten. Steckte nicht auch gerade in der älteren Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, die Habermas im Laufe seines Lebens gründlich umackern und auf transparente Füße stellen wollte, noch ein solcher Tiefsinn, wenn sie im Namen der Dialektik vor der Gefahr des identifizierenden Denkens warnt? Ohne Tricks und doppelten Boden zu denken – und vor allem: ohne über Lücken und Abgründe im Argument hinwegzutäuschen, wenn sie sich denn auftun –, bleibt ein stetes Merkmal seiner Arbeit. Wie Axel Honneth es einmal formulierte: »Der formale Aufbau von Habermas’ Theorie ist orientiert an intersubjektiver Verständigung, nicht am stilistischen Widerstand gegen Zweckrationalität«. Das kann man selbst heute bei weitem nicht für alle Theorien ungefragt voraussetzen.
Zur Selbstverständigung über den Stand der Philosophie gehört aber auch, dass dieses rationale Denken inhaltlich oft falsch lag. Felsch führt einige Beispiele an. Schon bei Habermas’ Beurteilung der Bürgerrechtsbewegung in den USA gerät man ins Grübeln, wenn der Philosoph in der Bewegung kein besonderes revolutionäres Potenzial erkennen wollte. Auch seine berühmte Überreaktion auf dem Kongress »Hochschule und Demokratie«, als in einer Diskussion über militante Aktionsformen plötzlich das deplatzierte Stichwort vom »linken Faschismus« fiel, darf in dieser Aufzählung nicht fehlen. Genauso verfehlt war aus heutiger Sicht die Einschätzung der neuen französischen Philosophie des Strukturalismus als »Jungkonservative«. Wenig konsistent erscheint dies nicht zuletzt vor seinem eigenen frühen Programm, ausgerechnet »mit Heidegger gegen Heidegger« zu denken – eine Formulierung, die in der heutigen veränderten Wissenschaftslandschaft schon fast ratlos wirken muss.
Zuletzt wurde Habermas’ Plädoyer für eine Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg vielfach von beiden Seiten des Spektrums kritisiert: Die einen warfen ihm vor, nicht die Gemeinsamkeiten mit den Kriegen um den Zerfall Jugoslawiens zu erkennen, die damals wie heute eine westliche Intervention rechtfertigen würden. Die Kritik von der anderen Seite lautete, die schon damals anvisierte Durchsetzung einer internationalen Rechtsordnung durch eine vermeintlich neutrale Weltpolizei habe längst jede Glaubwürdigkeit verloren und liefe doch nur auf das Primat westlicher Kapitalinteressen heraus. Die Hoffnung auf die USA als eine neue, progressive Macht, die Habermas wohl noch lange hegte, hat sich jedenfalls in den letzten 20 Jahren umso grundlegender zerschlagen.
Demokratische Denkform
Relevant ist Habermas heute vielleicht nicht so sehr aufgrund seiner konkreten Interventionen, sondern wegen der demokratischen Form seines Denkens. Gemeint ist damit nichts radikal- oder basisdemokratisches, wo Qualität und Quantität ineinander übergehen, sondern gerade das Gegenteil: institutionelles und durch mehrere, sich gegenseitig kontrollierende Schichten überprüftes Wissen, das sich nicht aus letzten Bestimmungen speist, sondern stets auf der Höhe des State of the Art der Philosophie rechtfertigen muss. Schon der kürzlich verstorbene Oskar Negt wusste von dem »ungeheuerlichen Maß an Begründungsanstrengung« zu berichten, welches Habermas sich selbst und seinen Studierenden im Seminar abverlangt haben muss.
Was bleibt, ist eine gemischte Bilanz. Denn nicht nur die Außenpolitik und das Verhältnis zur französischen Theorie fiel diesem Anspruch an lückenloser Begründung zum Opfer, sondern eben auch das Erbe des Marxismus. Seine »Rekonstruktion des Historischen Materialismus« ging begrifflich so streng und gründlich vor, dass von dem so Rekonstruierten nur noch wenig Wiedererkennbares übrigblieb. Auch die Marx’sche Krisentheorie hat, in vielen Hinsichten, die Freilegung ihres rationalen Kerns durch Habermas in seiner Schrift zum Spätkapitalismus selbst nicht mehr miterlebt. Viele radikale Linke – »radikalisiert durch die Adorno’sche Theorie und enttäuscht durch die Adorno’sche Praxis«, wie Felsch schreibt – haben ihm das nicht verziehen. Trotzdem kann man hinter diese Interventionen nicht mehr zurückgehen – aus der Philosophie darf man nicht beliebig aussteigen, wenn einem das Ergebnis nicht mehr gefällt. Genau das scheint aber Habermas’ Lektion zu sein: Wer Politik und Wissenschaft nicht populistisch betreiben will, muss in guten wie auch in schlechten Zeiten zum richtigen Argument halten, egal, ob es gerade gelegen kommt. Letztendlich ist es diese Position, die Habermas’ Aktualität aus heutiger Sicht ausmacht.
Philipp Felsch: Der Philosoph. Habermas und wir. Propyläen, 256 S., geb., 24 €.
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