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Schokolade - Metamorphose einer Kolonialware
Die weltweite Verbreitung der Schokolade begann mit dem europäischen Kolonialismus. Heute ist sie oft Fair-Trade-Produkt
Am häufigsten wird der Kakao für die Zubereitung eines Getränks verwendet, das die Indianer Schokolade nennen. … Es wird dort ganz allgemein getrunken, und zwar von den Eingeborenen wie von den Spaniern. Sobald man sich an das Getränk gewöhnt hat, wird der Genuß zu einer Leidenschaft», schrieb der italienische Kaufmann Francesco Carletti 1594 in seinem Bericht «Reise um die Welt». Es waren Spanier, die als erste Europäer im 16. Jahrhundert im Zuge der gewaltsamen Unterwerfungen der Maya- und Azteken-Reiche in Kontakt mit der Kakaopflanze kamen. Bis heute wird der Ursprung der Schokolade diesen beiden Hochkulturen zugesprochen und findet sich in Werbesprüchen à la Maya- oder Azteken-Gold wieder. Dabei konnten Archäologen nachweisen, dass der Kakaobaum bereits vor über 5000 Jahren von Gesellschaften im heutigen Grenzgebiet zwischen Ecuador und Peru kultiviert wurde. Die archäologischen Funde legen nahe, dass es über Jahrhunderte hinweg Handels- und Austauschbeziehungen zwischen Mittel- und Südamerika gegeben haben muss.
Aufstieg eines Genussmittels
Die Konquistadoren konnten sich also der Expertise der indigenen Bevölkerung bedienen, die diese zu Anbau und Verarbeitung des Kakaos über lange Zeiträume entwickelt hatte. Oder sie besetzten einfach teils vorhandene Anbauflächen. Denn im Gegensatz zu Tabak, Kartoffel oder Mais erwies sich die Kakaopflanze als klimatisch anspruchsvoll und konnte nicht nach Europa überführt werden. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 80 und 90 Prozent der indigenen Bevölkerung Mexikos und Zentralamerikas aufgrund des brutalen Vorgehens der spanischen Kolonisatoren und durch eingeschleppte Krankheiten starben. Als Ausgleich für die fehlenden Arbeitskräfte raubten die Europäer Menschen von der westafrikanischen Küste, verschifften sie wie Waren über den Atlantik und zwangen sie, als Sklaven auf den expandierenden Plantagen zu schuften.
Ab Beginn des 17. Jahrhunderts taucht Kakao regelmäßig in den Laderegistern der spanischen Überseefahrer auf. Zu dieser Zeit war die Schokolade in Europa ein Luxusgetränk der Aristokratie. Ausgehend vom spanischen Hof verbreitete sie sich zuerst in den Adelskreisen und europäischen Hofgesellschaften. Ab dem 18. Jahrhundert wurde sie durch Kaffeehäuser oder sogenannte Schokoladenstuben auch einer bürgerlichen Oberschicht zugänglich. Schokolade galt als gesundheitsfördernd und war ein Prestigegetränk, im Schnitt teurer als eine Tasse Kaffee. Der hohe Preis ergab sich dabei neben den Herstellungskosten auch aus teuren Gewürzen, die der Schokolade beigemischt waren, etwa Vanille, Chili, Zimt oder Nelken.
Zu einem Konsumprodukt der Massen konnte Schokolade erst im Zuge der Industrialisierung werden. Die aufwendige Umwandlung von Kakaobohnen zu Schokopaste wurde durch Maschinen effizienter und kostengünstiger. Weitere Schritte auf dem Weg zur heute bekannten Schokoladentafel waren die Erfindungen von Kakao- und Milchpulver im 19. Jahrhundert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten sich schließlich auch Arbeiterfamilien Schokolade leisten, die einerseits Genussmittel aber auch schneller Energielieferant war.
Koloniale Wertschöpfungskette
Mit der steigenden Nachfrage aus Europa wanderte die Kakaopflanze im Laufe der Jahrhunderte von Mexiko auf Plantagen in die Karibik. Auf den afrikanischen Kontinent gelangte sie erst Anfang des 19. Jahrhunderts mit ersten Anbauten auf den Inseln vor der westafrikanischen Küste. Der aus Ghana stammende Handwerker Tetteh Quarshie soll heimlich die erste Kakaopflanze von der damals spanisch besetzten Insel Fernando Pó, heute Bioko, auf das Festland geschmuggelt haben. Mit dem Errichten einer eigenen Kakaoplantage – die noch heute in Ghana zu besichtigen ist – widersetze er sich dem spanisch-portugiesischen Monopol. In Ghana wird Tetteh Quarshie als «Vater der Kakaoindustrie» bezeichnet.
Trotz dieser widerständigen Praktik ist die Kakaopflanze eines von vielen Beispielen dafür, wie der europäische Kolonialismus die lokale Fauna und Agrarwirtschaft tiefgehend verändert hat. Heute zählen die westafrikanischen Länder, allen voran Ghana und die Elfenbeinküste, mit einem Anteil von etwa 70 Prozent zu den größten Kakaoproduzenten der Welt – was ihren Staatskassen jedoch nicht allzu viel einbringt. Denn tatsächlich hat sich an der kolonialen Wertschöpfungskette bei vielen Rohstoffen, inklusive Kakao, bis heute kaum etwas geändert: Die Verarbeitung und Veredelung der Rohstoffe findet nach wie vor in Ländern des Globalen Nordens statt, die auch den größten Gewinn erzielen. Laut dem Netzwerk Inkota erhalten Kakaobauern und -bäuerinnen vom Preis einer durchschnittlichen Tafel Schokolade gerade einmal 8 Cent, während die Schokoladenunternehmen den vierfachen Gewinn erzielen. Die Mehrheit der weltweit 5,5 Millionen Kakaobauern und -bäuerinnen lebt unterhalb der Armutsgrenze. Dies führt mit dazu, dass allein in Westafrika etwa 1,5 Millionen Kinder auf den Kakaoplantagen mitarbeiten müssen.
Aber halt! Gab es nicht längst eine Bewegung, die sich für eine gerechte Gewinnverteilung zwischen Süd und Nord eingesetzt hat? Die Idee eines fairen Handels, bei dem Produzent*innen einen existenzsichernden Lohn erhalten, entwickelte sich ab den 50er Jahren im Umfeld christlich-karitativer Einrichtungen und wurde in den Folgejahren von diversen Solidaritätskampagnen weitergetragen. Die ersten «Dritte-Welt-Läden» öffneten in den 70er Jahren ihre Türen. Neben dem Verkauf von fair gehandelten Waren war (und ist) das Ziel der Läden auch, politische Bildung zu betreiben und ein kritisches Bewusstsein für ungleiche globale Wirtschaftsstrukturen zu schaffen. Seitdem hat sich viel im Fairtrade-Sektor getan. Das Sortiment fair gehandelter Produkte hat sich erweitert, die Handelsorganisationen haben diverse Standardisierungs- und Zertifizierungsmechanismen entwickelt und sich dabei enorm professionalisiert – und damit einhergehend leider auch entpolitisiert.
Verkaufsschlager Fairtrade
Fairtrade-Produkte sind zunehmend zu Feel-Good-Produkten verkommen, die in jedem Supermarkt oder im Sortiment von Großkonzernen wie Nestlé oder Starbucks angeboten werden. Dieses sogenannte Fairwashing verdeckt nicht nur, dass viele der globalen Konzerne die Rechte ihrer Arbeiter*innen im Globalen Norden missachten. Auch die Standards von Zertifikaten wie etwa dem Rainforest-Alliance-Siegel, das sich auf Aldi-Produkten befindet, bieten keine Garantie für existenzsichernde Bezahlung der Produzent*innen im Globalen Süden. Wer sich im Siegel-Dschungel zurechtfinden will, muss eben doch in politische Bildung investieren und auf Informationsmaterialien von NGOs wie Inkota zurückgreifen.
Paradoxerweise zählen viele der ehemaligen Kolonialprodukte heute zu den Topsellern der fair gehandelten Waren: Kaffee, Südfrüchte, Gewürze, Zucker oder Schokolade. Konsument*innen im Globalen Norden sind weiter in der machtvollen Position, zu entscheiden, ob sie Menschen im Globalen Süden «etwas Gutes tun» oder gar ihre «Entwicklung» fördern. Die Auflagen, die den Produzent*innen durch Fairtrade-Zertifizierungen auferlegt werden, sind natürlich sinnvoll, können aber auch als Diktat verstanden werden. Die Prämie zum Überleben bekommt nur, wer sich an die Regeln hält – zumindest dann, wenn die vorab angekündigten Prüfungen durch Zertifizierungsstellen erfolgen.
Und auch in den bunten Werbebildern für Schokolade findet sich eine merkwürdige koloniale Kontinuität, auch bei Fairtrade-Produkten. Gerne werden hier Bilder von traditionell oder folkloristisch gekleideten Kleinbauern verwendet, die, in wunderschöner Naturlandschaft fotografiert, dankbar in die Kamera lächeln – der dienende Sarotti-M. lässt grüßen. Die auf koloniale Ideologien zurückgehenden Dichotomien von modern gegen traditionell oder exotisch, von fortschrittlich gegen unterentwickelt werden im Bildgedächtnis der Konsument*innen dabei einfach abgerufen.
Endlich fair?
Also lieber keine Schokolade zu Ostern? Nicht unbedingt. Natürlich gibt es auch positive Entwicklungen auf dem Kakao-Markt. Es gibt hervorragende Fair-Trade-Organisationen, die sich darum bemühen, Hierarchien in der Zusammenarbeit so weit wie nur möglich abzubauen. Auch kämpft eine Vielzahl an NGO seit Jahrzehnten dafür, die hiesigen Schokoladenimperien stärker in die Verantwortung zu nehmen. Dabei könnte auch das neue EU-Lieferkettengesetz helfen, das am 15. März 2024 trotz der Enthaltung Deutschlands vom EU-Rat beschlossen wurde.
Außerdem fragen sich immer mehr Produzent*innen im Globalen Süden, warum sie ihre Rohstoffe nicht selbst verarbeiten und vertreiben sollten. Die Regierung Ghanas zum Beispiel verkündete vor vier Jahren, die heimische Produktion ankurbeln zu wollen. Dafür hat sich Ghana unter anderem mit dem Nachbarland Elfenbeinküste zusammengetan, um Mindestpreise für Kakaobohnen festzulegen. Zudem werden Anreize geschaffen, die industrielle Verarbeitung der Kakaobohne vor Ort aufzubauen – was bereits Erfolge zeigt. So heißt es auf der Webseite des ghanaischen Schokolade-Unternehmens Fair Afrique fast lapidar: «Wir spenden nichts nach Afrika. Wir produzieren einfach im Ursprungsland und zahlen faire Gehälter.»
Katrin Dietrich ist Soziologin und arbeitet im iz3w (Informationszentrum 3. Welt).
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