Bürgerrechtler Oleg Orlow: »Ich bedauere und bereue nichts«

Schlusswort des Bürgerrechtlers Oleg Orlow in seinem Prozess wegen »Diskreditierung der russischen Armee« zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde

  • Oleg Orlow
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Oleg Orlow in der Angeklagtenzelle vor einem Moskauer Gericht
Oleg Orlow in der Angeklagtenzelle vor einem Moskauer Gericht

Dieser Gerichtsprozess wurde an jenem Tag eröffnet, an dem die schreckliche Nachricht vom Tod Alexej Nawalnys Russland und die gesamte Welt erschütterte. Auch mich hat sie erschüttert. Ich habe sogar erwogen, auf dieses letzte Wort zu verzichten. Wir sind alle noch im Schock, wem ist denn heute nach Worten? Doch dann dachte ich: Dies sind alles Glieder der gleichen Kette. Alexejs Tod, genauer: seine Ermordung, die strafrechtliche Verfolgung anderer Regimekritiker, darunter ich selbst, die Erstickung der Freiheit in diesem Land, die Invasion russländischer Truppen in die Ukraine. Daher habe ich mich doch entschlossen.

Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich stehe wegen eines Zeitungsartikels vor Gericht, in dem ich das politische Regime, das in Russland entstanden ist, totalitär und faschistisch genannt habe. Der Artikel wurde vor mehr als einem Jahr geschrieben. Damals dachten einige meiner Bekannten, ich würde zu dick auftragen.

Hintergrund

Ende Februar 2024 wurde der Bürgerrechtler Oleg Orlow in Moskau zu zweieinhalb Jahren Haft im Straflager verurteilt. Der Vorwurf: Er habe Russlands Armee diskreditiert. Der 1953 geborene Biologe gehörte 1988 zu den Gründern der Menschenrechtsvereinigung Memorial, die sich zunächst mit der Aufarbeitung des Stalinismus und später auch mit Menschenrechtsverletzungen in postsowjetischen Kriegen beschäftigte, etwa im Südkaukasus und in Tschetschenien. Ende 2021 wurde Memorial vom russischen Staat aufgelöst. Im März 2023 wurde Orlow wegen Kritik am Ukraine-Krieg zu einer Geldstrafe verurteilt; dagegen ging die Staatsanwaltschaft in Berufung. Im Februar 2024 wurde Orlow zum Auslandsagenten erklärt und schließlich zur Lagerhaft verurteilt. Wir dokumentieren seine Schlussbemerkungen vor Gericht. Auf Deutsch erschien das Schlusswort zuerst auf der Internetseite der Zeitschrift »Osteuropa«, übersetzt wurde es von deren Mitarbeiter Volker Weichsel.

Heute ist vollkommen offensichtlich, dass ich kein bisschen übertrieben habe. Der Staat hat nicht nur die Gesellschaft, die Politik und die Wirtschaft wieder unter seine Kontrolle gebracht, sondern strebt auch eine vollständige Kontrolle der Kultur und des wissenschaftlichen Denkens an, er dringt in das Privatleben ein. Er ist total.

In nur gut vier Monaten, die seit dem ersten gegen mich hier geführten Prozess vergangen sind, haben zahlreiche Ereignisse gezeigt, wie unser Land immer tiefer und tiefer in diesen Abgrund stürzt.

Ich nenne nur einige wenige, von unterschiedlicher Tragweite:

– In Russland sind mittlerweile einige Bücher russischer Gegenwartsautoren verboten;

– eine gar nicht existierende LGBT-Bewegung wurde verboten. Konkret bedeutet das eine dreiste Einmischung des Staats in das Privatleben der Menschen;

– an der Moskauer Wirtschaftshochschule ist es Prüfungskandidatenverboten, »ausländische Agenten« zu zitieren. Bevor Studenten sich mit einem Thema befassen, müssen sie nun zuerst die Liste der ausländischen Agenten pauken;

– der bekannte Soziologe und linke Publizist Boris Kagarlitzky wurde wegen einiger weniger Worte über die Ereignisse in der Ukraine, die von der offiziellen Darstellung abwichen, zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt;

– eine Person, den die Propagandisten »nationaler Führer« nennen, sagt öffentlich über den Beginn des Zweiten Weltkriegs: »Die Polen haben letztlich durch ihr Taktieren Hitler gezwungen, den Zweiten Weltkrieg eben in Polen zu beginnen. Warum begann der Krieg genau in Polen? Weil das Land nicht zu Kompromissen bereit war. Hitler blieb zur Umsetzung seiner Pläne nichts anderes, als mit Polen zu beginnen.«

Wie bezeichnet man eine politische Ordnung korrekt, in der diese Dinge geschehen? Meiner Ansicht nach gibt es hier keinen Zweifel. Leider hatte ich in meinem Artikel recht.

Verboten ist nicht nur öffentliche Kritik, sondern jedes eigenständige Urteil. Man kann für Dinge bestraft werden, die, so sollte man meinen, mit Politik oder Regimekritik nichts zu tun haben. In keinem Bereich der Kunst ist freier Ausdruck noch möglich, es gibt keine freien Geistes- und Sozialwissenschaften mehr, es gibt auch kein Privatleben mehr.

Jetzt einige Worte zu den gegen mich erhobenen Vorwürfen, die in vielen ähnlichen Prozessen auch gegen andere Kriegsgegner erhoben werden.

Ich habe zu Beginn dieses Verfahrens erklärt, dass ich mich daran nicht beteiligen werde und hatte daher Zeit, während der Sitzungen Franz Kafkas Roman »Der Prozess« zu lesen. Unsere heutige Lage hat einiges gemeinsam mit der Lage, in die Kafkas Held geraten ist: Absurdität und Willkür, die hinter einem Schleier aus pseudorechtsstaatlichen Prozeduren versteckt werden.

Wir werden der Diskreditierung beschuldigt, ohne dass erklärt wird, was das bedeutet und wie diese sich von erlaubter Kritik unterscheidet. Wir werden beschuldigt, Behauptungen verbreitet zu haben, von denen wir gewusst hätten, dass sie falsch sind – ohne dass gezeigt wird, dass sie tatsächlich falsch sind. Genauso ging der sowjetische Staat vor, wenn er jede Kritik als Lüge bezeichnete. Selbst der Versuch zu beweisen, dass die Aussagen korrekt sind, ist strafbar. Wir werden beschuldigt, ein System von Glaubenssätzen und eine Weltanschauung nicht zu teilen, die von der Führung unseres Landes als wahr bezeichnet werden. Und dies, obwohl Russland keine Staatsideologie haben darf. Wir werden verurteilt, weil wir daran zweifeln, dass der Überfall auf ein Nachbarland dem Ziel der Erhaltung des zwischenstaatlichen Friedens und der Sicherheit dient.

Es ist absurd.

Kafkas Held weiß bis zum Ende des Romans nicht, was ihm vorgeworfen wird, gleichwohl wird er verurteilt und hingerichtet. Uns wird der Grund der Anklage genannt, aber man kann diesen, wenn man sich an das Recht und die Logik hält, nicht verstehen.

Übrigens wissen wir im Unterschied zu Kafkas Held, warum wir festgenommen, vor den Haftrichter gestellt, verhaftet, verurteilt und umgebracht werden. Wir werden dafür bestraft, dass wir das Regime kritisieren. Dies ist im heutigen Russland absolut verboten.

Duma-Abgeordnete, Untersuchungsbeamte, Staatsanwälte und Richter sprechen das nicht offen aus. Sie verbergen es in ihren sogenannten Gesetzen, Anklageschriften und Urteilen unter absurden und widersprüchlichen Formeln. Aber es ist ein Fakt.

Gegenwärtig werden in den Lagern und Gefängnissen Alexej Gorinow, Alexandra Skotschilenko, Igor Baryschnikow, Wladimir Kara-Murza und viele andere langsam zu Tode gebracht. Sie werden getötet, weil sie gegen das Blutvergießen in der Ukraine protestiert haben, weil sie wollen, dass Russland ein demokratisches, blühendes Land wird, das keine Bedrohung für seine Nachbarn darstellt.

In den letzten Tagen wurden Menschen weggezerrt, mit Geldstrafen oder sogar Arreststrafen belegt, nur weil sie zu einer Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen gekommen waren, um dort des ermordeten Alexej Nawalny zu gedenken, dieses bemerkenswerten, mutigen und aufrichtigen Menschen, der unter unfassbar grausamen, speziell für ihn geschaffenen Umständen den Optimismus und den Glauben an die Zukunft unseres Landes nicht verlor. Ohne allen Zweifel wurde er ermordet, ganz gleich, unter welchen konkreten Umständen er gestorben ist.

Das Regime kämpft sogar noch gegen den toten Nawalny, es hat sogar vor seinem Leichnam Angst. Und zu Recht! Es zerstört spontan entstandene Orte des Gedenkens an ihn.

Wer so etwas tut, hofft darauf, dass es auf diese Weise gelingt, jenen Teil der russländischen Gesellschaft zu demoralisieren, der weiter Verantwortung für unser Land übernimmt. Diese Hoffnung darf sich nicht erfüllen.

Alexej hat uns zugerufen: »Lasst euch nicht unterkriegen.« Ich füge hinzu: Verzweifelt nicht, verliert nicht den Optimismus. Denn die Wahrheit ist auf unserer Seite. Jene, die unser Land in den Abgrund geführt haben, in dem es sich heute befindet, stehen für das Alte, das Hinfällige, das Absterbende. Sie haben kein Bild von der Zukunft, nur Zerrbilder der Vergangenheit, Illusionen von »imperialer Größe«. Sie stoßen Russland rückwärts, zurück in eine Anti-Utopie, die Wladimir Sorokin in seinem Roman »Der Tag des Opritschniks« beschrieben hat. Wir aber leben im 21. Jahrhundert, uns gehört die Gegenwart und die Zukunft – und dies ist das Unterpfand unseres Sieges.

Zum Schluss will ich, unerwartet vielleicht für viele, mich an jene wenden, die mit ihrer Arbeit das Rad der Repressionen antreiben. An die Beamten in den Ministerien, an die Angestellten der Sicherheitsorgane, an die Richter und Staatsanwälte.

In Wahrheit verstehen sie sehr gut, was passiert. Lange nicht alle von ihnen sind überzeugt, dass politische Repressionen richtig sind. Manchmal bedrückt es sie, dass sie Teil davon sind, aber sie sagen sich: »Was kann ich schon tun? Ich erfülle nur die Anordnungen von oben. Gesetz ist Gesetz.«

Ich wende mich an Sie, Euer Ehren, und an den Vertreter der Anklage. Haben Sie keine Angst? Macht es Ihnen keine Angst, wenn sie sehen, was aus unserem Land wird, das sie wahrscheinlich ebenfalls lieben? Macht es Ihnen keine Angst, dass vielleicht nicht nur Sie und Ihre Kinder, sondern, Gott bewahre, auch Ihre Enkel in dieser Absurdität, in dieser Anti-Utopie leben müssen?

Kommt Ihnen wirklich das Offensichtliche nicht in den Sinn? Dass das Rad der Repressionen früher oder später auch über jene hinweg rollen wird, die es in Gang gesetzt und angetrieben haben? Die Geschichte kennt viele solche Beispiele.

Ich wiederhole, was ich bereits beim letzten Prozess gesagt habe. Ja, Gesetz ist Gesetz. Aber erinnern Sie sich daran, dass in Deutschland im Jahr 1935 die sogenannten Nürnberger Gesetze beschlossen wurden. Doch nach dem Sieg von 1945 standen jene vor Gericht, die diese Gesetze ausgeführt haben.

Ich kann nicht mit absoluter Sicherheit sagen, ob diejenigen, die heute in Russland widerrechtliche, verfassungswidrige Gesetze ausführen, selbst dafür vor Gericht stehen werden. Aber eine Strafe wird es unausweichlich geben. Ihre Kinder oder Enkel werden sich schämen, davon zu sprechen, wo ihre Väter, Mütter, Großväter und Großmütter in Dienst gestanden und was sie getan haben. Das Gleiche geschieht mit denjenigen, die auf Befehl in der Ukraine Verbrechen begehen. Meiner Ansicht nach ist dies die schrecklichste Strafe. Und sie kommt unweigerlich.

Nun, ich werde auch unweigerlich bestraft werden, weil unter den heutigen Bedingungen ein Freispruch bei einer solchen Anklage unmöglich ist.

Und jetzt werden wir sehen, wie das Urteil ausfällt. Wie auch immer: Ich bedauere und bereue nichts.

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