Damals wie heute

Die Trägheit des Herzens und die Uneinigkeit der Linken: die Autobiografie von Ernst Toller »Eine Jugend in Deutschland«

  • Michael Girke
  • Lesedauer: 5 Min.
Karikatur von Paul Rieth (1871–1925) auf die Wehrertüchtigung der Jugend in Deutschland
Karikatur von Paul Rieth (1871–1925) auf die Wehrertüchtigung der Jugend in Deutschland

Ich habe ein Kleidchen an. Ich stehe auf dem Hof unseres Hauses an einem Leiterwagen. Er ist groß, größer als Marie, so groß wie ein Haus. Marie ist das Kindermädchen, sie trägt rote Korallen um den Hals, runde, rote Korallen. Jetzt sitzt Marie auf der Deichsel und schaukelt. Durchs Hoftor kommt Ilse mit ihrem Kindermädchen. Ilse läuft auf mich zu und reicht mir die Hand. Wir stehen eine Weile so und sehen uns neugierig an. Das fremde Kindermädchen unterhält sich mit Marie. Nun ruft sie Ilse: ›Bleib da nicht stehen, das ist ein Jude‹.« Eine Episode aus einer deutschen Kindheit um 1900. Geschrieben steht sie in einem Buch von Ernst Toller, das vor fast hundert Jahren veröffentlicht wurde.

Solche Bücher seien verstaubt, meint der Markt, der Literatur zum schnell verbrauchten Wegwerfprodukt degradiert hat. Doch der Satz »Bleib da nicht stehen, das ist ein Jude«, der auch im heutigen Deutschland gedacht und ausgesprochen werden könnte, führt vor Augen, dass alte Bücher gar nicht alt und tote Autoren unsere Zeitgenossen sind.

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Wer war Ernst Toller? Geboren 1893 in Samotschin, am äußersten östlichen Rand des Deutschen Reiches. Ein Theaterautor, dessen Stücke in den 1920er Jahren ein riesiges internationales Publikum fanden. Als Toller noch nicht vierzig war, verfasste er mit »Eine Jugend in Deutschland« seine Autobiografie. Der Mann hatte wahrlich Unglaubliches erlebt und davon reichlich. Tollers Leser lernen, dass ein regelmäßig als Jude beschimpfter und beleidigter junger Deutscher dennoch vaterländisch empfinden konnte. Als das Kaiserreich 1914 gegen die verhassten westlichen Demokratien in den Krieg zog, meldet der Student sich freiwillig zum Fronteinsatz. Und lernt die Folgen der Stahlgewitter kennen: »Eines Nachts hören wir Schreie, so, als wenn ein Mensch furchtbare Schmerzen leidet, dann ist es still. ›Wird einer zu Tode getroffen sein‹ denken wir. Nach einer Stunde kommen die Schreie wieder. Nun hört es nicht mehr auf. Diese Nacht nicht. Die nächste Nacht nicht. Nackt und wortlos wimmert der Schrei, wir wissen nicht, dringt er aus der Kehle eines Deutschen oder eines Franzosen. Der Schrei lebt für sich, er klagt die Erde an und den Himmel. Wir pressen die Fäuste an unsere Ohren, um das Gewimmer nicht zu hören, es hilft nichts, der Schrei dreht sich wie ein Kreisel in unseren Köpfen, er zerdehnt die Minuten zu Stunden, die Stunden zu Jahren. Wir vertrocknen und vergreisen zwischen Ton und Ton.«

»Eine Jugend in Deutschland« ist keine chronologische Schilderung, es besteht aus unendlich vielen kurzen Episoden. Eine Montage aus Splittern, Eindrücken, zugespitzten Erfahrungen, Assoziationen. Ernst Piper, Herausgeber der Neuauflage, hat das Buch mit einer ausführlichen Erläuterung des tatsächlichen Zeitverlaufs angereichert, die Tollers Schlaglichter historisch einzuordnen helfen. Mitten im Krieg erkennt der Autor, dass diejenigen, die da zu Tausenden gemetzelt werden nicht Franzosen, Engländer, Deutsche sind, sondern Menschen. Sein Patriotismus kippt um in ein Leiden an Deutschland, dessen Elite die Jugend bereitwillig opfert.

Der junge Toller macht sich auf die Suche nach einem geistigen Ausweg aus den »schrecklichen Wirren der Zeit«. Bei einer Versammlung hochrangiger Intellektueller fordert der Soziologe Max Weber, dass die Bevölkerung an den Entscheidungen der Politik endlich beteiligt werde. Die meisten anderen aber suchen das Heil in Religion, in Esoterik. Eine anonyme Mutter wünscht in einem Leserbrief, dass der inzwischen als Autor und Regimekritiker bekannt gewordene Toller an einem Granattrichter festgebunden und von englischen Geschossen zerrissen werden möge. Ein vernünftiges Deutschland ist nicht in Sicht.

1918 ist die Lage aussichtslos, immer mehr Deutsche hungern, viele Arbeiter und Matrosen verweigern den Dienst. Der Krieg geht verloren, der Kaiser dankt ab, Deutschland wird Demokratie. Sozialisten versuchen sich im November 1918 an einer Revolution nach sowjetischem Vorbild. Das Unternehmen scheitert, aber ausgerechnet in München, wo Toller lebt, keimt Hoffnung. Dort wird eine Räterepublik ausgerufen. Als diese kurz darauf in militärische Bedrängnis gerät, macht man den erklärten Pazifisten Toller zum Heerführer. Einige Male können seine Leute die Truppen der Reaktionäre zurückschlagen, nach vier Wochen aber wird die Räterepublik besiegt.

Warum dies? Toller sieht als einen entscheidenden Grund dafür den Umgang der diversen linken Gruppierungen miteinander an. Da sind die Vertreter der von Berlin aus regierenden SPD; die Vertreter der USPD, die sich von der SPD abgespalten hat, weil diese mit den Gewalten des alten Deutschland und des Kapitalismus verfilzt ist; die Vertreter der an Moskau orientierten Kommunisten. Nach der Ermordung von Kurt Eisner durch einen völkischen Antisemiten wird Toller Vorsitzender der bayerischen USPD. In der Linken kommt es zu ständigen, handfest ausgetragenen Auseinandersetzungen mit- und Intrigen gegeneinander. Selbst als die Gegner der Räterepublik vor den Toren Münchens stehen und ihr Untergang droht, kann die Linke sich auf nichts einigen.

Aber auch die Mentalität der meisten Arbeiter ist laut Toller ein Problem. Zu sehr sind sie an blinden Gehorsam gewohnt, zu sehr halten sie die Ausschaltung eigener Verantwortlichkeit für Disziplin und brutale Gesten für Stärke; zu wenig sind sie für die Demokratie bereit. Die Niederlage der Münchner Räterepublik ist vernichtend, die Rache der Sieger furchtbar. Anführer und Anhänger der Republik werden umgehend füsiliert – oder nach entsprechenden Urteilen einer durch und durch korrupten Justiz. Toller kann sich verstecken, wird aber entdeckt. Weil Prominente wie Max Weber sich für ihn stark machen, muss er nur eine Haftstrafe antreten. Vom Gefängnis aus macht Toller Karriere. Seine Theaterstücke werden in ganz Europa aufgeführt, als er entlassen wird, ist er ein gefeierter Literaturstar.

1933, nachdem die Nazis die Macht übernommen hatten, veröffentlichte Toller in einem Exilverlag eine zweite Auflage seiner Autobiografie. In dem hinzugefügten Nachwort heißt es, man könne die Ereignisse von 1933 nicht ohne Kenntnis dessen verstehen, was 1918/19 in Deutschland geschehen ist. Gemeint war vor allem die heillose Zerstrittenheit der Linken, die ihr in entscheidenden Momenten die politische Kraft raubte. Für den Erfolg ihrer Gegner wie die extreme Rechte machte Toller aber auch eine bestimmte menschliche Eigenschaft mitverantwortlich: »Die Trägheit des Herzens«, die dazu führt, dass die Menschen das zulassen, was sie nicht wollen. »Eine Jugend in Deutschland« – ein grandioses Buch, von gestern für heute.

Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Hg. von Ernst Piper. Die Andere Bibliothek, 346 S., geb., 48 €.

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