Türkei: Erdoğan ist angezählt

Oppositionspartei CHP setzt sich bei Kommunalwahlen an die Spitze

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Niederlage der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP bei der Kommunalwahl hat die politische Landschaft in der Türkei durchgerüttelt. So mancher Beobachter sieht nun schon das politische Ende von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan aufziehen. In der Tat konnte man den Eindruck gewinnen, dass er von der Niederlage gezeichnet war: Mit langsamen Schritten schleppte er sich in Ankara auf die Bühne, wo er eigentlich den Sieg seiner Partei, der AKP, feiern wollte, und suchte sichtlich nach den passenden Worten, um seinen gespannt wartenden Anhängern die Niederlage beizubringen.

Während sich die Opposition im Aufwind sieht, muss Präsident Recep Tayyip Erdoğan das Debakel aufarbeiten, wie er selbst nach der Wahl einräumte. Er will jetzt die Niederlage analysieren lassen, um herauszufinden, woran es gelegen hat. Die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratisch orientierte CHP, gewann inoffiziellen Ergebnissen zufolge landesweit 35 der 81 Oberbürgermeisterposten und konnte damit ihren größten Erfolg seit Jahrzehnten einheimsen. Sie verteidigte zudem ihre Posten in der wichtigen Metropole Istanbul und der Hauptstadt Ankara – insgesamt gewann sie in den fünf größten Städten des Landes. Zudem weitete sie ihren Einfluss in Anatolien – eigentlich Kernland der AKP – aus.

Das Ergebnis der Wahl kam überraschend. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr schien Erdoğan noch unbesiegbar – trotz der massiven Inflation und der Unzufriedenheit nach den schweren Erdbeben im Südosten des Landes. Politische Beobachter wie der Analyst Berk Esen gehen davon aus, dass viele AKP-Anhänger angesichts der schlechten Wirtschaftslage nicht zur Wahl gingen oder für kleinere konservative Parteien wie die islamistische Yeni Refah stimmten. Diese machte der AKP Konkurrenz und konnte zwei Provinzen von ihr erobern.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Unter der Inflation von rund 67 Prozent leiden vor allem Geringverdiener und Rentner, Lebensmittel und Mieten steigen stetig. Die ideologische Bindung ist bei Kommunalwahlen traditionell nicht so stark, was es konservativen Wählern leichter gemacht haben könnte, Erdoğan einen Denkzettel zu verpassen. Darauf deutet auch die geringere Wahlbeteiligung hin. Die lag nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur mit gut 78 Prozent etwa sechs Prozentpunkte unter der bei vergangenen Kommunalwahlen.

Ob die CHP den Erfolg auf kommunaler Ebene auch landesweit ausschlachten kann, hängt teilweise auch von ihrem Hoffnungsträger ab – dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu. Er wurde in der 16-Millionen-Metropole wiedergewählt und bringt sich damit wieder als möglicher künftiger Präsidentschaftsanwärter ins Spiel. Als bevölkerungsreichste türkische Stadt gilt Istanbul als Sprungbrett für höhere Ambitionen. Auch Erdoğans politischer Aufstieg begann dort. İmamoğlu droht aber immer noch ein Politikverbot wegen eines Verfahrens gegen ihn, das Beobachter als politisch motiviert ansehen. Eine Entscheidung wird in den kommenden Wochen erwartet.

İmamoğlu gewann laut vorläufigen Ergebnissen mit rund elf Prozent Vorsprung und ließ sich noch in der Nacht zu Montag vor jubelnden Anhängern feiern. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der 53-Jährige erneut Unterstützung von kurdischen Wählern erhielt, obwohl die prokurdische DEM eine eigene Kandidatin aufstellte. Der Bürgermeister hat zudem bewiesen, dass er die Sechser-Allianz, mit der die Opposition bei den Präsidentenwahlen angetreten war, nicht braucht. Die nationalkonservative Iyi-Partei, die als Konkurrentin von İmamoğlus CHP galt, versank in der Bedeutungslosigkeit.

Derweil setzt der türkische Staat seine Repression in den Kurdengebieten der Türkei fort. Wahlsieger der prokurdischen Partei DEM seien offenbar abgesetzt worden, heißt es von verschiedener Seite. So berichtete die kurdische Nachrichtenagentur AFN News am Dienstagnachmittag, dass die türkische Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas und teils auch Schlagstöcken Proteste in der kurdischen Großstadt Van gegen die unrechtmäßige Ernennung eines AKP-Politikers zum Oberbürgermeister niedergeschlagen habe. Tausende Menschen seien auf die Straße gegangen, um »Respekt vor dem Willen der Bevölkerung« einzufordern, viele Gewerbetreibende hätten ihre Geschäfte geschlossen. Auf der Hauptstraße im Zentrum Vans sowie in mehreren Seitenstraßen seien Mülltonnen und Pflanzkübel umgeworfen und Barrikaden errichtet worden. Mit Agenturen

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.