Türkische Kommunalwahlen: »Loyalitäten sind instabil geworden«

Politikwissenschaftler Alp Kayserilioğlu über den überraschenden Erfolg der Opposition bei den Kommunalwahlen in der Türkei

  • Interview: Svenja Huck, Istanbul
  • Lesedauer: 6 Min.
Eine Frau fährt zu den Feierlichkeiten nach dem Wahlsieg von Ekrem İmamoğlu in Istanbul.
Eine Frau fährt zu den Feierlichkeiten nach dem Wahlsieg von Ekrem İmamoğlu in Istanbul.

Die Tatsache, dass sich die Opposition in den Wahlen gegen die AKP-Regierung durchsetzen konnte, wurde mancherorts zum Anlass genommen, der Türkei eine doch halbwegs funktionierende Demokratie zu attestieren. Stimmt das?

So einfach ist das nicht. Die Türkei hat ein instabiles, hybrides politisches System: hauptsächlich autoritär mit einigen typisch faschistischen Elementen, aber eben auch schwachen Überresten von Demokratie, darunter Wahlen. Man kann in der Türkei, außer im Osten in Kurdistan, mehr oder minder frei wählen, aber nicht fair. Im Vorlauf zu Wahlen arbeiten der gesamte Staat und ein Großteil der privaten Medien im Sinne der Regierung und gegen die Opposition.

Dass es in der Türkei eine starke Opposition gibt, ist weniger ein Zeichen für ein demokratisches System, sondern zeigt eher, wie stark Widerstand und Kampf gegen Autoritarismus und Faschismus sind. Von diesem Widerstand und den Kämpfen hängt auch ab, ob autoritär-faschistische oder demokratische Elemente dominieren. Dieses dynamische Element wird selten wahrgenommen im bürgerlichen Journalismus, der klare und einfache Verhältnisse sehen will: Demokratie oder Faschismus.

Interview

Alp Kayserilioğlu lebt in Berlin und Istanbul und promoviert an der Universität Tübingen zur AKP-Herrschaft in der Türkei. Er veröffentlicht regelmäßig zur politischen und wirtschaftlichen Geschichte der Türkei und ist Redakteur des Onlinemagazins re:volt magazine.

Nur zehn Monate nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei überraschte der Wahlsieg der Opposition bei den Kommunalwahlen eigentlich. Was hat sich in den letzten Monaten verändert?

Nichts und deshalb alles. Viele Wähler*innen der Regierungsparteien haben letztes Jahr noch einmal ihr Kreuz bei diesen Parteien gesetzt in der Hoffnung, dass sich insbesondere ökonomisch was ändert. Für den Großteil der Bevölkerung ist es wirtschaftlich aber schlechter geworden. Viele AKP-Wähler*innen sind diesmal daher den Wahlen ferngeblieben, haben andere Parteien im Regierungsblock gewählt oder tatsächlich mal die Opposition. Die Leistung der CHP insbesondere in Istanbul und Ankara, wo sie seit fünf Jahren regiert, hat ebenfalls überzeugend gewirkt.

Die Wähler*innen der Oppositionsbündnisse haben erstaunlich einheitlich agiert, obwohl die Oppositionsparteien selbst in hunderten sinnlosen Kleinkriegen auseinandergegangen sind nach dem Wahldebakel im vergangenen Jahr. Der Opportunismus der oppositionellen Kleinstparteien im Kampf um Posten wurde offensichtlich vom oppositionellen Wahlvolk abgestraft, die CHP belohnt als realistische Alternative gegen das System Erdoğan als Ganzes. Die Kurd*innen haben mit einer beispiellosen Disziplin im Westen strategisch die CHP gewählt, im Osten ihre eigene Partei.

Nicht zuletzt sind Kommunalwahlen weniger wichtig für die zukünftige Gesamtentwicklung des Landes als nationale. Daher sind Wähler*innen eher geneigt, mal etwas anderes zu probieren. Dass so viele einzelne Faktoren dazu führen konnten, dass es zu diesem unerwarteten Ergebnis kommt, sagt etwas darüber aus, wie instabil Loyalitäten und Identitäten geworden sind. Das ist typisch für eine Hegemoniekrise, wo es ruckartig zu unerwarteten Veränderungen kommen kann.

Über die Stadtverwaltung lässt sich nur begrenzt Einfluss nehmen auf die ökonomische Situation der Menschen in der Türkei, schließlich ist die Zentralregierung nach wie vor in der Hand der AKP. Welchen realen Handlungsspielraum haben die oppositionellen Bürgermeister*innen, um die finanziellen Nöte der Bevölkerung zu bekämpfen?

Tatsächlich mehr, als man glaubt. Inflation, niedriges Reallohnniveau, Arbeitslosigkeit, mangelnde Arbeitsplatzsicherheit, schlechte Arbeitsverhältnisse – kurz, die konkreten sozialen Produktionsverhältnisse und makroökonomischen Indikatoren wird man kaum ändern können mittels Lokalverwaltungen. Aber schon jetzt tritt hervor, wie viel Geld sinnlos verschleudert wurde an AKP-nahe Unternehmen in Istanbuler Bezirksverwaltungen, die jetzt an die CHP übergegangen sind. Durch die Kappung dieser ganzen klientelistischen Kanäle werden im volkswirtschaftlichen Sinne zwar vielleicht marginale, im Sinne von öffentlichen Dienstleistungen und für Arme aber immense Summen frei.

Im Prinzip genau das hat der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu auf Großstadtebene seit fünf Jahren gemacht und tatsächlich eine beachtliche Umverteilungspolitik betrieben, zudem die öffentlichen Dienstleistungen wie öffentlicher Verkehr, öffentliche Bibliotheken oder Museen gestärkt. Ich denke, das wird auch weiterhin die Strategie der CHP sein: Bestätigung und Anerkennung über erfolgreiche Lokalpolitik aufzubauen, um bei den nationalen Wahlen 2028 viel besser dazustehen.

Im mehrheitlich kurdisch geprägten Osten konnte die Dem-Partei (ehemals HDP) und ihre Basis mit schnell organisiertem Widerstand die Absetzung ihres Bürgermeister Abdullah Zeydan direkt nach den Wahlen verhindern. Ist die Gefahr weiterer Zwangsverwalter damit gebannt?

Wie gesagt, entscheiden die sozialen Kräfteverhältnisse vor Ort, ob das autoritär-faschistische Element oder das demokratische überwiegt in einem gegebenen Fall. Die Stadt Van in Ostanatolien ist geradezu ein Paradebeispiel hierfür. Die schnelle landesweite Organisierung der kurdischen Bevölkerung, die Unterstützung durch die Linke auch vor Ort und von der CHP auf der einen Seite, die Spaltung der AKP selbst über die Absetzungsentscheidung auf der anderen Seite haben in diesem Fall bewirkt, dass der autoritäre Akt widerrufen werden musste.

Umgekehrt läuft es gerade in Hatay. Dort ist es wahrscheinlich, dass die CHP knapp gewonnen hat, dass aber Stimmen in einem wahlentscheidenden Umfang für ungültig erklärt wurden. Der CHP-Kandidat für die Hatay-Provinz ist extrem unbeliebt wegen seines Verhaltens während des Erdbebens, die Wahlbeteiligung der traditionell oppositionsstarken Provinz war historisch niedrig, niemand außer der CHP mobilisiert für ihn. Hier kann sich also die AKP mit Wahlmanipulation durchsetzen. Auch in Zukunft werden die sozialen Kräfteverhältnisse entscheiden, ob wieder Zwangsverwalter eingesetzt werden. Es läuft beispielsweise ein Gerichtsverfahren gegen den Istanbuler Bürgermeister İmamoğlu, das zu einem Betätigungsverbot führen kann, und ein Verbotsverfahren gegen die HDP.

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Außerhalb der kurdischen Regionen haben linke Parteien kaum nennenswerte Erfolge zu verzeichnen – obwohl doch gerade jetzt die soziale Ungerechtigkeit stark spürbar ist. Welche Forderungen müsste die Linke in der Türkei aufstellen, um als Alternative zur CHP erkennbar zu sein?

Die Linke hat wie überall sonst auch ein Glaubwürdigkeitsproblem. Sie ist zu schwach, ihre Zersplitterung erscheint den Wähler*innen als sinnlos und nicht zielführend. Wo sie in der Basis verankert ist, eine realistische Alternative anbieten kann und stärker zusammenarbeitet als sich auseinanderzudividieren, da hat sie gewonnen oder Achtungserfolge erzielt. Im Übrigen gerade nicht nur in den kurdischen Regionen, sondern in den arabisch-alevitischen, nämlich in Hatay. Antakya war sehr stark vom Erdbeben betroffen und Linke haben dort einen »Erdbebenkommunismus« organisiert, der zu einem Popularitätsaufschwung der Linken geführt hat.

Das Beispiel ist kennzeichnend dafür, wie erfolgreiche linke Politik gehen kann: Vor Ort im Leben der Leute mit den Leuten beharrlich eingreifen auf einer linken, das heißt solidarischen, partizipativen und egalitären Basis. Das überzeugt und ist eine Alternative zum bestehenden bürgerlichen Betrieb. Inhaltlich und etwas größer betrachtet verspricht die bürgerliche Opposition eine Restauration des Neoliberalismus, ihr Bekenntnis zur Demokratisierung ist halbherzig und vage. In beiden Punkten kann und muss sich die Linke mit guten Alternativen absetzen.

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