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Weiteres Morden in der Ukraine ist nicht die Lösung
Die Ukrainer sehnen sich nach einem Ende des Krieges – und würden dafür auch mit Russland reden
An den Mauern des St. Michaelsklosters im Herzen von Kiew hängen Tausende Fotos von gefallenen Soldaten: von den jugendlichen Zügen einiger Männer mit ihrer kaum verborgenen Aufregung bis zu erfahrenen und vom Krieg gezeichneten Gesichtern älterer Kameraden – die Mauern des Klosters scheinen endlos. »Auch in diesem Augenblick sterben Menschen«, ertönt die Stimme eines Soldaten, der sich die Fotos ansieht. Ruslan hat in Bachmut gekämpft und ist für eine Woche nach Kiew zu seiner Familie zurückgekehrt. »Selenskyj hat gesagt, er würde den Krieg beenden, doch er ist nur größer geworden, weil er nicht reden will.«
Laut einer Umfrage des Internationalen Kiewer Instituts für Soziologie vom Februar spricht sich die Mehrheit der Ukrainer für einen diplomatischen Lösungsweg des Krieges aus. 72 Prozent der Befragten gaben an, dass sich die Ukraine neben militärischen Aktionen auch diplomatisch für einen Frieden einsetzen sollte. Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zu Wolodymyr Selenskyjs Dekret, das Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten untersagt.
Ukrainer sehnen sich nach Ende der Gewalt
Die Sehnsucht nach einem Ende der Gewalt spiegelt sich in den persönlichen Geschichten der Ukrainer wider: Nikolaj aus Donezk war Scharfschütze in Bachmut, als ihm bei einer Minenexplosion ein Bein weggesprengt wurde. Jetzt befindet er sich im Kiewer Krankenhaus Nr. 6 in Behandlung. An der Wand des geräumigen und lichtdurchfluteten Patientenzimmers hängen viele Zeichnungen. Eine davon trägt die Überschrift »Tod den Russen«. Darunter ein blau-gelbes Herz mit der Unterschrift »Karolina, 2. Klasse«. »Russland hat uns alle vergiftet«, erklärt sein Zimmernachbar, »auch unsere Kinder.« Nikolaj fällt es schwer zu reden. Sein Gesicht ist besonders durch die Hämatome unter seinen Augen geprägt. »Ja, wir haben ein großes Problem, doch man kann es lösen, und nicht durch weiteres Morden.«
Die Debatte um Verhandlungen mit Russland ist lauter denn je, denn die Lage an der ukrainischen Front ist kritisch. Während es den Ukrainern an Waffen und Personal mangelt, beschleunigen russische Truppen laut der US-amerikanischen Denkfabrik Institute for the Study of War ihre Offensivoperationen. »Es gibt nichts, was der Ukraine jetzt helfen könnte. Denn es gibt keine ernst zu nehmenden Technologien, mit welchen die Ukraine die große Masse an Truppen kompensieren könnte, die Russland wahrscheinlich auf uns werfen wird. Wir verfügen nicht über diese Technologien, und der Westen auch nicht in ausreichender Zahl«, erklärten ukrainische Militärs dem Nachrichtenportal »Politico«. Weiterhin würden der Ukraine 500 000 Soldaten fehlen, um die Front zu halten.
Kaum noch Freiwillige für die Front
Anfang April hat Präsident Selenskyj daher neue Kriegsgesetze unterschrieben, bei denen das Alter der Wehrpflichtigen von 27 auf 25 Jahre heruntergesetzt wurde. Vor wenigen Tagen beschloss das Parlament zudem die umstrittene Reform der Mobilisierung. Doch die bereits Zehntausenden getöteten Soldaten und Zivilisten werfen ein grelles Licht auf die Dringlichkeit einer Lösung, die über das Schlachtfeld hinausreicht.
Auch die 60-jährige Lada musste vor einigen Wochen ihren erst 25 Jahre alten Sohn begraben. Zum vierten Mal wurde Nikita einberufen und kehrte dann nicht wieder zurück. »Die Männer, die bereit sind uns zu beschützen, wie mein Nikusja, sind schon 2022 an die Front. Die, die übrig sind, werden nicht gehen. Doch mir persönlich ist das nicht mehr wichtig.« Lada wischt sich die Tränen aus den Augen.
Rekrutierungen mit Gewalt
Angesichts der steigenden Verluste haben Rekrutierer ihre Bemühungen intensiviert, die Reihen ihres Militärs wieder aufzufüllen, wie die »New York Times« berichtet. Dabei greifen sie zu drastischen Maßnahmen, indem sie Männer von den Straßen holen und Pässe beschlagnahmen. Auch vor körperlicher Gewalt schrecken sie nicht zurück: Zahlreiche Videos sind bereits im Netz erschienen, in denen Rekrutierer Männer gewalttätig in ihre Autos schleppen, um sie in Rekrutierungszentren zu bringen. Öffentlichen Aufzeichnungen zufolge gab es allein im November 226 Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit der Mobilmachung.
Auch der 35-jährige Dima wurde am Bahnhof der westukrainischen Großstadt Lwiw angehalten und gegen seinen Willen in das Rekrutierungszentrum gebracht. Nach einer eineinhalb Monate langen Ausbildung schickte ihn das Zentrum an die Front der Gebiete Charkiw und Luhansk, wie ein nahestehender Freund der Familie schildert. Seit Januar haben Freunde und Familie den Kontakt zu ihm verloren. Doch sie glauben daran, dass Dimas Foto nicht zwischen den Tausenden Gefallenen an den Wänden des Kiewer St. Michaelsklosters erscheint.
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