Messe Hannover: Hauptsache digital

Die Industriemesse in Hannover steht im Zeichen künstlicher Intelligenz

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.
Auf der weltweit größten Industrieschau steht die Digitalisierung von Produktionsabläufen im Zentrum der Debatten.
Auf der weltweit größten Industrieschau steht die Digitalisierung von Produktionsabläufen im Zentrum der Debatten.

Deutschlands Wirtschaft sieht alt aus. So lautet der Befund des Internationalen Währungsfonds (IWF). Düstere Diagnosen stellten zuletzt auch deutsche Forschungsinstitute und die Volkswirte der Industrieverbände auf: Zu wenig Nachwuchs, unproduktiv, von Bürokratie zermürbt und zu geringe Investitionen. Doch im zweiten Jahr ohne Wachstum zeigt die weltgrößte Industriemesse in Hannover, die am Montag ihre Tore für das Publikum öffnete, ein ganz anderes Bild.

Beispielsweise Siemens: Die Industrie-Ikone baut in München ein neues Technologie-Zentrum. Eingebettet in den beeindruckenden Technologiepark Garching, in dem mehr als 20 000 Wissenschaftler, Ingenieure und Softwareexperten aus Dutzenden Firmen und Hochschulen an der Zukunft tüfteln. Siemens selbst investiert dort in Datenanalytik und künstliche Intelligenz (KI), um die Programmierung zu erleichtern, mögliche Störungen in der Produktion rechtzeitig zu erkennen und die einfache Verständigung zwischen Mensch und Maschine per Sprache zu ermöglichen. Mit rund 3700 KI-Patenten sieht sich der Konzern führend beim industriellen KI-Einsatz.

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KI ist aber längst auch im Mittelstand angekommen. Lange bevor Chat GPT in der Öffentlichkeit populär wurde, sei maschinelle, generative Lerntechnik zahlreich genutzt worden, sagte Gunter Kegel, Präsident des Branchenverbandes für Elektronik (ZVEI), vor Journalisten auf der Messe. »In den Unternehmen sind die wichtigsten Arbeitsprozesse wie Vertrieb, Marketing, Produktion und vor allem Innovation mit komplett neuen IT-Landschaften versehen worden.«

Wirtschaft und Industrie seien zwar zurzeit in einer Krise, aber die sei konjunktureller, nicht struktureller Art, bläst Karl Haeusgen vom mächtigen Maschinenbauverband VDMA in dasselbe Horn. Dieser steht für den Kern der deutschen Industrie mit rund einer Million Beschäftigten in 36 Einzelbranchen. Und in den meisten sei man nach wie vor Weltmarktführer. Die Industriestandorte Deutschland und Europa brauchten Reformen, aber »keine Untergangsdebatten«. Insgesamt seien die zumeist mittelständischen Firmen sehr robust aufgestellt und zudem »fest mit ihren heimischen Standorten verbunden«.

Die Modernisierung der Informationstechnologie (IT) hatte mit der Marketingidee »Industrie 4.0«, die vor einem Jahrzehnt auf der Hannover Messe präsentiert wurde, richtig Fahrt aufgenommen. Heute können viele Unternehmen kleine Stückzahlen passgenau nach den Wünschen der Kunden zu sehr günstigen Kosten produzieren. Große Stückzahlen, also die billige Massenproduktion, wandert seit Jahrzehnten nach China, Asien und Osteuropa ab. Aber das sei überhaupt kein neues oder besorgniserregendes Phänomen, so Kegel.

»Manufacturing-X« heißt das neue Schlagwort auf der Messe. Das Geschäftsmodell der endverbraucherorientierten Plattformen wie Amazon, Google oder Meta (Facebook) wird Industrie. Die Gewinne der überwiegend US-amerikanischen Plattformen basieren auf der Nutzung der Daten, die Kunden der Dienstleister billionenfach zur Verfügung stellen.

Über riesige Datenbestände verfügen aber auch die deutschen Industrieunternehmen. Diese Schätze sollen nun gehoben werden. »Unternehmen sollen Daten über die gesamte Fertigungs- und Lieferkette souverän und gemeinsam nutzen können«, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium.

Dazu hat der Mittelstand eigene, sichere Plattformen entwickelt, auf denen Daten, die eigene Maschinen und Anlagen erzeugen, mit Partnern geteilt werden. Und zwar »mit vertrauenswürdigen Partnern«, so Haeusgen. Auf diesen neuen Strukturen wollen die Unternehmen nun aufsetzen. Eine aktuelle Befragung zeige: Die Industrie wolle mehr investieren, ganz überwiegend in Deutschland, und zwar in Richtung digitaler Geschäftsmodelle und Elektrifizierung.

Während der Auftaktveranstaltung der Hannover Messe am Sonntag hatte EU-Präsidentin Ursula von der Leyen (CDU) versprochen, ihre Politik nach der Europawahl stärker auf wirtschaftliches Wachstum und weniger auf Regulierungen auszurichten. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte seinen Auftritt vor der versammelten deutschen Wirtschaftsprominenz genutzt, die Maßnahmen der Bundesregierung zur Standortverbesserung aufzuzählen und zu loben – von den riesigen Subventionen für die Ansiedlung von Halbleiterfabriken hin zum vierten Bürokratieabbaugesetz.

Dem Industrieverband BDI ist dies, wie auch VDMA und ZVEI, quantitativ und qualitativ zu wenig. Sie fordern unter anderem großzügigere Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen, Steuersenkungen und – mit Blick auf Europa – einen »konsequenten Rückbau bürokratischer Belastungen der vergangenen Legislaturperiode«. Letzteres zielt auf die neuen Berichtspflichten, die etwa durch Lieferkettengesetze oder die grüne Taxonomie entstehen.

Nach Hannover sind 4000 Aussteller aus 60 Ländern gekommen, weniger als vor der Pandemie. Ähnlich ergeht es der deutschen Industrie. Der Umsatz des produzierenden Gewerbes liegt 13 Prozent unter dem Allzeithoch vor Corona. Nicht ganz uneigennützig fordern die Verbände von Politikern in Berlin und Brüssel, nicht den »Irrweg« in eine Dienstleistungs- und Finanzmarktgesellschaft wie Großbritannien zu gehen. Dann sähe die deutsche Wirtschaft wirklich alt aus.

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