Zuchtlachs: Nicht überlebensfähig

Nachdem in Island Lachse aus Aquafarmen entwichen sind, wächst die Sorge um die wilden Artgenossen

  • Jörn Breiholz und Michael Marek, Reykjavik
  • Lesedauer: 7 Min.
Zuchtlachse sind in der Natur kaum lebensfähig, weil ihre Schwanzflossen unterentwickelt sind.
Zuchtlachse sind in der Natur kaum lebensfähig, weil ihre Schwanzflossen unterentwickelt sind.

Jón Kaldal steht am Arnarfjörður Fjord im Nordwesten von Island und schaut besorgt auf die Lachszuchtanlage 400 Meter vom Ufer entfernt. 12 ringförmige Netze treiben dort im Wasser. »Allein an diesem kleinen Standort gibt es etwa 1,2 Millionen Zuchtlachse. Das ist 20 mal mehr als die gesamte isländische Wildpopulation.« Der Isländer arbeitet für den Icelandic Wildlife Fund, eine Nichtregierungsorganisation, die sich für den Schutz von Meer und Fischen engagiert.

Island gilt als Inbegriff wilder Natur. Vulkane, Wasserfälle und die reiche Fischwelt ziehen mehr und mehr Touristen an. Doch jetzt könnte ausgerechnet der König der Fische, der Wildlachs, von der Insel verschwinden, fürchten viele Isländer. Der Grund: die industrielle Produktion norwegischer Zuchtlachse vor Islands Küsten. Einige Tausend sind Ende letzten Jahres aus ihren schwimmenden Käfigen entwichen. Jetzt paaren sie sich mit Wildlachsen und bedrohen deren Population. Naturschützer, Angler und Landwirte protestieren inzwischen gegen das milliardenschwere Geschäft der Fischindustrie.

»Das hier sind Lachsläuse. Seht ihr, wie sie sich bis in den Schädel gefressen haben?«, fragt Elvar Friðriksson. Er ist Geschäftsführer des North Atlantic Salmon Fund, einer weiteren Nichtregierungsorganisation, die sich für den Erhalt des wilden isländischen Lachses einsetzt. Wir treffen den Naturschützer vor einer Anglerhütte. Zu seinen Füßen liegt ein Dutzend aus der Lachszucht entflohener toter Zuchtlachse.

»Schaut euch die Flosse an, die ist ganz zerrissen. Das ist ein untrügliches Zeichen für einen Zuchtlachs. Und wenn ihr euch die Flosse genauer anschaut: Bei einem Wildlachs wäre diese erheblich größer und spitzer. Schließlich ist sie für das Schwimmen gegen die Flussströmung gemacht. Aber diese Zuchtlachse sind sehr viel kleiner.« Friðriksson erklärt uns, was es mit den Tierkadavern auf sich hat: Es handelt sich um geflohene Zuchtlachse aus den Netzen von Arctic Fish. Das mehrheitlich norwegische Unternehmen ist börsennotiert und hat extra norwegische Taucher einfliegen lassen, die die entflohenen Zuchtlachse aufspüren und töten sollen. So will man verhindern, dass sich Zucht- und Wildlachs paaren. Denn die genetischen Eigenschaften der Zuchtfische sind für die Massenproduktion geeignet, reichen aber nicht für das Überleben in der Natur.

Ein weiteres Problem: Zuchtlachse sind anfällig für Krankheiten. Wo sie sind, haben Parasiten leichtes Spiel. Fast alle toten Zuchtlachse, auf die Elvar Friðriksson zeigt, sind mit Wunden übersät: »Die Wunden können verschiedene Ursachen haben. Sie können von Lachsläusen stammen oder von Risswunden, die sich die Lachse an den Plastiknetzen zugezogen haben, weil sie dort sehr dicht gedrängt zusammenleben. Dann infizieren sich diese Wunden. Oder die entkommenen Zuchtlachse wurden von Robben angegriffen. Keiner dieser Hybridlachse ist unversehrt.« Schließlich zeigt Friðriksson auf ein besonderes Exemplar: Um sein Auge herum haben die Lachsläuse sich durch die Haut und den Schleim gefressen, so dass sie in den Schädel und in die Knochen eindringen konnten.

Lachse werden vor der isländischen Küste in Aquafarmen gehalten.
Lachse werden vor der isländischen Küste in Aquafarmen gehalten.

Die Lachslaus ist entgegen dem Namen kein Insekt, sondern ein parasitischer Krebs, der sich von außen auf die Haut des Fisches setzt, dann dem Fisch Schleim und Blut entzieht und sich davon ernährt. Auch deswegen dürfen die Fischfarmen in Norwegen ihre Käfige nicht mehr in den Mündungsbereichen der Flüsse aufstellen, sondern müssen raus aufs Meer, in der Hoffnung, dass sich die Fische dort seltener mit der Lachslaus infizieren. Auf Island gibt es dagegen deutlich weniger Regeln für die Aquakultur.

Ortswechsel, gut Tausend Kilometer Luftlinie entfernt in Bremerhaven an der deutschen Nordseeküste. Seit gut 30 Jahren beschäftigt sich Ulfert Focken am Thünen-Institut für Fischereiökologie mit Aquakulturen, also Fischen, Krebstieren, Muscheln und Algen, die unter kontrollierten Bedingungen aufgezogen werden. Für Focken wie auch für seinen Kollegen Professor Reinhold Hanel ist diese Landwirtschaft unter Wasser unverzichtbar: »Ohne Aquakultur hätten wir keine Chance, den Menschen zu ernähren«, sagt Hanel, der das Thünen-Institut leitet. »Wir müssen Meeresflächen, aber auch Binnengewässer teilweise noch stärker als bisher für die Nahrungsmittelproduktion nutzen, wenn wir eine steigende Weltbevölkerung in ausreichendem Maße mit Nahrung beliefern wollen.« Gerade in Asien habe die Aquakultur einen Stellenwert erreicht, der dem der Landwirtschaft entspreche.

Heute stammt mehr als die Hälfte der weltweit konsumierten Fische und Meeresfrüchte bereits aus Aquakulturen. Angesichts stagnierender Fänge der Wildfischerei und einer wachsenden Weltbevölkerung gewinnt die Aquakultur als Lebensmittellieferant an Bedeutung. Der Lachs gehört allerdings kaum dazu. »Das ist ein Fisch, der nicht für die Welternährung gezüchtet wird«, so Reinhold Hanel, »sondern um einen lukrativen Nischenmarkt zu bedienen«.

Im Arnarfjörður Fjord in Island schaukeln auf einer Perlenkette aneinandergereiht die nach oben offenen, kreisrunden Plastikgehege. Jedes der Netze hat einen Durchmesser von 200 Metern. Von oben sieht das alles unspektakulär aus. Doch das täuscht. Das Drama der Zuchtlachsproduktion spielt sich unter Wasser ab, in den nach unten hängenden engmaschigen Kunststoffnetzen. Was für uns von oben nicht zu sehen ist: In jedem einzelnen der künstlich angelegten Offshore-Bassins schwimmen 100 000 Zuchtlachse. Es ist eine gigantische unterseeische Industriemast auf einer Länge von gerade mal zwei Kilometern.

Umweltschützer Jón Kaldal zeigt auf einen Ponton inmitten der Anlage: darauf ein containerartiges Gebäude. Das ist ein Futterautomat, der industriell gefertigtes Fischfutter in die riesigen Netze schießt: »Sie setzen die Jungtiere ins Netz, wenn sie zwischen 120 und 200 Gramm wiegen. Danach bleiben sie 18 Monate in der Zuchtanlage. Wenn die Lachse zwischen sechs und acht Kilogramm wiegen, werden sie geschlachtet. Davor werden sie unentwegt gefüttert. Die Zuchtlachse wachsen derart schnell, dass einige von ihnen missgebildet sind. Denn das Skelett kann mit diesem schnellen Wachstum nicht mithalten.

Am Thünen-Institut ist das Tierwohl in den vergangenen Jahren zu einem immer wichtigeren Gegenstand der Forschung geworden. Die Frage, wie es den Fischen bei der Zucht geht, werde immer relevanter, sagt Hanel. Mittlerweile gehe die Diskussion eher dahin, dass auch Fischen ein Schmerzempfinden zugestanden werde.

Für Jón Kaldal sind Zucht- und Wildlachs zwei komplett verschiedene Fische, die auf keinen Fall Nachfahren zeugen sollten: «Du hast dann Nachkommen, die nicht an ein Leben in der Wildnis angepasst sind. Ähnlich wie die Nachkommen eines Pudels und eines Wolfs. Die wären auch nicht in der Lage, in der freien Wildbahn zu leben. Das ist die schreckliche Seite der Lachsindustrie.»

Der wilde Lachs ist lang und muskulös: ein Raubfisch mit kräftiger, breiter Schwanzflosse, die er auf den vielen tausend Kilometern Reise durch Islands Flüsse und den Atlantik herausgebildet hat. Die braucht er auch, um die isländischen Flüsse hinauf ins Brutgebiet schwimmen zu können. Ganz anders der von Menschenhand gezüchtete Lachs: Seine Schwanzflosse ist viel kleiner und nicht sehr ausgeprägt. Er hat sein gesamtes Leben in Gefangenschaft verbracht: erst in der Aufzuchtstation an Land, später in dem dicht gewebten Netz der Zuchtlachsfirma. Gejagt hat dieser Raubfisch nie.

Die geflüchteten Zuchtlachse haben auf Island für große Aufregung gesorgt. Nicht nur in den Medien des Landes sind sie derzeit ein Dauerbrenner. Islands Popikone Björk hat zusammen mit der spanischen Singer-Songwriterin Rosalía sogar einen eigenen Song gegen das Lachsgeschäft aus dem Reagenzglas veröffentlicht.

Wir treffen Sigurdur Thorvsalds. Der Isländer betreut Angeltouristen aus Island, aber auch aus dem Ausland. Sie bezahlen viel Geld, um wilde Lachse zu fangen. Es ist ein Hobby für Reiche: 650 Euro am Tag kostet allein die Lizenz; Kost, Logis und Flug kommen noch obendrauf. Dafür darf man einen Lachs pro Tag angeln, jeder weitere gefangene Lachs muss wieder freigelassen werden. Sigurdur Thorvsalds hat Angst, dass erst der wilde Lachs und dann die Touristen ausbleiben könnten: «Wir haben ein Foto gemacht. Darauf kann man erkennen, dass ein Wild- und ein Zuchtlachs sich paaren. Das ist schrecklich. Versteht Ihr? So könnte uns der Wildlachs verloren gehen, durch das Meer wandern und vielleicht nie mehr hierherkommen. Das müssen wir stoppen!»

Ein Horrorszenario für die 2200 isländischen Familien, die einen Teil ihres Lebensunterhalts mit dem Verkauf der Fanglizenzen und der Unterbringung der Angeltouristen bestreiten. Für sie wäre das Verschwinden des isländischen Lachses eine wirtschaftliche Katastrophe.

Wenig wilder Lachs oder Zigtausend Tonnen Zuchtlachs? Nachhaltiger Angeltourismus für isländische Familien oder Big Business für eine Handvoll großer multinationaler Fischunternehmen? Gibt es einen Kompromiss zwischen wilder Natur und gezüchteten Raubfischen? Island wird sich entscheiden müssen: Im Mai 2024 will die Regierung ein neues Gesetz für die Lachsmast in Islands Fjorden verabschieden. Sie will damit einen Spagat schaffen: Der Wildlachs soll schützt und zugleich die industrielle Zucht nicht ruiniert werden.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.