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Immer mehr Berliner sterben an Drogen
Im vergangenen Jahr wurden 271 Rauschgifttote registriert, 41 mehr als im Vorjahr. Konsumräume können Leben retten
»Seit der Existenz der ›Birkenstube‹ vor zwanzig Jahren, ist hier kein einziger Mensch gestorben«, sagt Rehabilitationspädagogin Larissa Oliverio am Mittwochmorgen bei einem Rundgang mit der Presse. Die »Birkenstube« in Moabit ist eine von fünf Berliner stationären Konsumräumen mit integrierter Kontakt- und Beratungsstelle. Geführt wird die sozialarbeiterische Einrichtung vom Sozialunternehmen Vista.
Oliverio zeigt, wie sicherer Drogenkonsum aussehen kann: In der »Birkenstube« gibt es einen Aufenthaltsraum mit der Möglichkeit, ein warmes Getränk, Informationen oder einfach sozialen Kontakt zu bekommen. Alkohol und Fotografieren sind untersagt. Im Konsumraum gibt es sterile Utensilien. Überall und jederzeit dabei: Sozialarbeiter*innen und medizinisches Fachpersonal mit »Naloxon« in der Tasche. Das Nasenspray rettet bei einer Überdosierung mit Opioiden Leben. »In 98 Prozent der Fälle geht hier vor Ort aber alles gut«, beruhigt die Sozialarbeiterin die anwesende Presse.
Die »Birkenstube« ist am Mittwoch im medialen Scheinwerferlicht: Denn Bundesdrogenbeauftragter Burkhard Blienert veröffentlicht tragische Zahlen – im vergangenen Jahr hat des Bundeskriminalamt (BKA) 2227 drogenbedingte Todesfälle registriert. Das sind 237 mehr als im Jahr zuvor und damit die höchste je registrierte Zahl. Die Zahlen liegen etwa doppelt so hoch wie vor zehn Jahren. In Berlin starben im vergangenen Jahr 271 Menschen an den Folgen von Drogenkonsum, das sind 41 mehr als im Vorjahr. Im Vergleich mit den Jahren zuvor ist die Tendenz steigend. Das geht auf Zahlen der Gesundheitssenatsverwaltung zurück, die »nd« vorliegen.
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Blienert schätzt die Lage »sehr ernst« ein. Es zeige sich, dass Mischkonsum zu einem immer größeren Problem werde. Bei 1479 der Verstorbenen wurde der Konsum verschiedener illegaler Substanzen festgestellt. Global geht der Trend laut dem Drogenbeauftragten zu preiswerteren und stärker wirksamen Opioiden und Stimulanzien, gleichzeitig steige das Angebot an Kokain in Deutschland stark an.
Blienerts Pressesprecherin Yvonne Reißig klärt »nd« über den Einfluss der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan auf den globalen Drogenmarkt auf. Mit dem von den Taliban durchgesetzten Verbot des Anbaus von Schlafmohn ist laut Angaben der UN die Produktion vor Ort um 95 Prozent eingebrochen. Nun sei laut Reißig die Frage, ob andere Länder den Opiumanbau übernommen hätten oder global mehr gestreckt werde.
Heroin ist zwar nach den gesammelten Zahlen der Landeskriminalämter für 2023 häufigster Grund für Drogentod (2023: 712 Todesfälle). Die Zahl der durch Crack und Kokain Verstorbenen stieg aber von 507 im Jahr 2022 auf 610 im Jahr 2023 an. Nicht zuletzt sind es gerade jene Substanzen, die laut Sozialarbeiter*innen und Anwohner*innen an Orten wie dem Leopoldplatz oder dem Görlitzer Park mit einem aggressiveren Verhalten der Konsument*innen verbunden werden.
Ein aggressiveres Klima nimmt Rehabilitationspädagogin Oliverio in der »Birkenstube« in den letzten Jahren nicht wahr. Stattdessen sehr viel Dankbarkeit. Noch seien die Auswirkungen des veränderten afghanischen Marktes in Berlin nicht spürbar: »Wir müssen uns aber darauf vorbereiten.«
Und Vorbereitung kostet bekanntlich. Bundesdrogenbeauftragter Blienert spricht sich am Mittwoch dafür aus, Präventions-, Beratungs- und Hilfesysteme fit zu machen. Die neben Blienert anwesende Christina Rummel, Geschäftsführerin der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), macht den Bedarf konkret: »Erste Ergebnisse einer deutschlandweiten Befragung der DHS zeigen, dass drei Viertel der öffentlich finanzierten Suchtberatungsstellen ihre Kosten in diesem Jahr nicht decken können.« Die Konsequenzen seien, dass Beratungsangebote eingeschränkt oder Dienste komplett gestrichen würden.
»Schon jetzt sind die Träger der Drogenhilfe finanziell nicht ausreichend ausgestattet, um dem Bedarf an Beratung, Therapie oder Konsumräumen nachzukommen. Angesichts der Zahlen bräuchte es dringend eine Ausweitung«, sagt der Linke-Abgeordnete Niklas Schrader, drogenpolitischer Sprecher seiner Fraktion zu »nd«. Ein Sprecher der Senatsgesundheitsverwaltung sagt »nd«, es sei beabsichtigt, »im Rahmen der Haushaltswirtschaft allen Projekten die zur erfolgreichen Fortführung der Projektarbeit notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen«. Schrader fürchtet angesichts der aktuellen Haushaltspolitik der schwarz-roten Koalition eher eine Kürzung der Angebote. »Stattdessen investiert er lieber vier Millionen für den sinnlosen Zaun um den Görlitzer Park. Das ist komplett unverantwortlich.«
Auch Vista-Geschäftsführerin Nina Pritszens spricht sich gegenüber »nd« für einen Ausbau der Suchthilfe aus – besonders in Hinblick auf Substitution. »Wir brauchen Substitutionstherapie, die kombiniert ist mit Aufenthalts- und Beschäftigungsmöglichkeiten, um mehr Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf in der Behandlung zu halten.« Pritszens berichtet außerdem, dass das im Sommer 2023 gestartete Pilotprojekt »Drug-Checking« in der »Birkenstube« sehr gut genutzt werde. Nutzen würden es jedoch kaum vulnerable Opioid-Abhängige, sondern eher Freizeitkonsument*innen, da man in der Regel ein paar Tage auf das Ergebnis warten müsse.
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