Astreine Ausbeutung an Hochschulen

Eine Undercover-Reportage deckt unhaltbare Arbeitsbedingungen des ausgegliederten Reinigungspersonals an der Freien Universität Berlin auf.

  • Stefanie Retzlaff
  • Lesedauer: 6 Min.
Unter dem Namen »Bologna-Prozess« begann 1999 die Neoliberalisierung der europäischen Universitäten. Sie ist Gegenstand linker Hochschulpolitik der Gegenwart – wie hier an der FU 2023.
Unter dem Namen »Bologna-Prozess« begann 1999 die Neoliberalisierung der europäischen Universitäten. Sie ist Gegenstand linker Hochschulpolitik der Gegenwart – wie hier an der FU 2023.

Der Fernsehreporter hat gerade seine Undercover-Recherchen abgeschlossen, als auf einmal eine große, schwarze Limousine deutlich sichtbar vor seiner privaten Wohnung parkt. Sie trägt die Aufschrift der Berliner Gebäudereinigungsfirma Capital Infradienst. Der für das »Team Wallraff« im Einsatz befindliche Journalist fühlt sich bedroht.

So beginnt die am 4. April 2024 im Fernsehsender »RTL« ausgestrahlte Reportage »Schmutz und Gier – Undercover in der Reinigungsbranche«. Die hier an den Anfang gestellte Szene ist der reißerische Aufhänger für einen »Krimi aus dem echten Leben«, der zwielichtigen Geschäftspraktiken auf die Schliche gekommen ist. Doch dies ist nicht die einzige unerwartete Wendung der verdeckten Recherchen. Geplant als Sendung zur Enthüllung mangelhafter Hygienebedingungen in Schulen, Hotels und Krankenhäusern decken die Recherchen vor allem eines hinter der sauberen Fassade der Reinigungsbranche auf: arbeitsrechtliche Verstöße und massive Ausbeutung der Beschäftigten.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Privatwirtschaftliche Ausbeutung

Seine erste Station macht das »Team Wallraff« beim deutschlandweit agierenden Gebäudedienstleister Astrein Exzellent. Getarnt als eine für das Unternehmen tätige Putzkraft erfährt die Journalistin des Teams in einem Hamburger Hotel schnell, was in der mit rund 700 000 Arbeitnehmenden größten Handwerksbranche Deutschlands für die Beschäftigten häufig zum Arbeitsalltag gehört. Der allgemeinverbindliche Branchenmindestlohn wird durch leistungsabhängigen Akkordlohn systematisch unterschritten, im Krankheitsfall Lohn abgezogen, Überstunden werden nicht bezahlt und die Lohnabhängigen durch hohen Zeitdruck, Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz, Drohungen und willkürliche Kollektivstrafen zermürbt. Teil des lukrativen Geschäftsmodells ist es zudem, die Angestellten nur als geringfügig beschäftigt anzumelden und durch diesen Sozialversicherungsbetrug zusätzlich Profite zulasten der Beschäftigten einzufahren.

Wie der von Günter Wallraff in der Sendung befragte Fachanwalt für Arbeitsrecht betont, sind die überwiegend migrantischen und geflüchteten Arbeitnehmenden in der Branche besonders intensiver Ausbeutung ausgesetzt. Mangelndes Wissen zur Rechtslage und zu Beratungsangeboten sowie Ängste vor Verlust des Arbeitsplatzes oder des Aufenthaltsstatus sind vorherrschend. Nicht nur die Arbeitszeiten in den späten Abend- und frühen Morgenstunden tragen zur Unsichtbarkeit der Beschäftigten bei, sondern auch strukturell bedingte Benachteiligungen. Wie »nd.DerTag« im vergangenen Oktober berichtete, hatte das »Berliner Beratungszentrum für Migration und Gute Arbeit« (BEMA) anlässlich des weltweiten Tags für menschenwürdige Arbeit zu einer Aktion aufgerufen, um die zum Teil illegalen Arbeitsbedingungen im Gebäudereinigungssektor zu beleuchten und die Beschäftigten auf Beratungs- und Unterstützungsangebote hinzuweisen.

Der zweite Undercover-Einsatz führt das »Team Wallraff« zum Berliner Dienstleistungsunternehmen Capital Infradienst, das seinen Jahresumsatz primär mit der Reinigung öffentlicher Gebäude verdient. Die protzige Firmenlimousine, die am Ende der Recherchen dem Journalisten bis vor die Haustür folgt, ist dem Fernsehpublikum schon aus der Eingangsszene der Sendung bekannt. Einsatzort der Recherchen ist dieses Mal die Freie Universität Berlin. Hier erwarten den Reporter ähnliche Zustände wie im ersten Einsatz: Die zur Erreichung des Mindestlohns notwendige Arbeit ist im vorgegebenen Zeitraum kaum zu schaffen, Kolleg*innen berichten von Lohnabzug im Urlaub und Krankheitsfall, wer sich rechtlich wehrt, wird stark unter Druck gesetzt. Der Undercover-Reporter soll nach eintägiger Einarbeitung ein Seminargebäude mit einer Fläche von mehr als 2000 Quadratmetern putzen – innerhalb von vier Stunden. Dass in dieser Zeit nicht die vertragliche Leistung hygienischer Sauberkeit erbracht werden kann, liegt auf der Hand. Neben den hygienischen Mängeln wird in der Fernsehreportage außerdem hervorgehoben, dass laut Leistungsverzeichnis der öffentlichen Ausschreibung mehr als acht Stunden für die Reinigung des Seminargebäudes vorgesehen und vergütet sind, real aber nur vier Stunden geleistet werden.

Besonders skandaltauglich scheint also, dass der Staat mithin systematisch um Steuergelder betrogen wird. Doch ist das Outsourcing öffentlicher Dienstleistungen an unlautere Firmen nichts Neues. Spätestens seit Einführung der Schuldenbremse und der als alternativlos ausgegebenen Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst ist dies längst staatlich organisiert. Lohnabbau, Tarifflucht und die Ausweitung des Niedriglohnsektors inklusive menschenunwürdiger Arbeitsverhältnisse gehen mit dem Rückbau öffentlicher Daseinsvorsorge Hand in Hand. Dass die Fernsehreporter mit ihren Recherchen nun ausgerechnet an der Freien Universität in Berlin landen ist bezeichnend, lässt diese doch bereits seit vielen Jahren in Bezug auf Ausgliederung und ungleiche Arbeitsbedingungen von sich reden. Schauplatz waren hier insbesondere der Botanische Garten und die Veterinärmedizin der Hochschule.

Ausbeutung durch Hochschulen

Botanische Gärten sind meist den Universitäten angliedert, lassen sich aber für die drittmittelabhängige Forschung kaum noch in Wert setzen und werden daher vielerorts abgewickelt. Um die Personalkosten für die im Tarifvertrag der Länder bezahlten Beschäftigten zu drücken, gründete die Freie Universität 2007 eine Betriebsgesellschaft als privates Tochterunternehmen mit hauseigenem Tarifvertrag, die Löhne lagen unter Mindestlohnniveau. Ab 2014 initiierte eine Gruppe gewerkschaftlich aktiver Beschäftigter mit Unterstützung von ver.di die politische Tarifkampagne »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« und forderte das Ende von Ausgliederung, Personalabbau und Lohndumping. Nach fast zwei Jahren Organisierung wurde ein Tarifvertrag erkämpft, infolgedessen der Gemeinschaftsbetrieb 2017 in den Flächentarifvertrag zurückgeführt wurde. Trotz dieses Erfolgs und erheblicher Proteste konnte die weitgehende Ausgliederung der Reinigung nicht verhindert werden. Die Kosten des Botanischen Gartens werden seitdem weiterhin zulasten der Beschäftigten klein gehalten.

Ähnliches gilt auch für die Veterinärmedizin der Freien Universität. Hier ist die Belegschaft seit mehreren Jahren mit Personalmangel und daraus entstandener Arbeitsverdichtung und Überlastung konfrontiert, sowie mit zu niedrigen Eingruppierungen im Tarifvertrag und nicht ausgezahlten Zulagen, beispielsweise für Schichtarbeit oder Rufbereitschaft. Seit Juli 2021 lief auch in der Veterinärmedizin eine gewerkschaftliche Kampagne, um gegen Lohnverluste durch Nichtbeachtung des Tarifvertrags vorzugehen. Mehr als zwei Millionen Euro nicht gezahlter Zuschläge waren nach langanhaltender Auseinandersetzung für die Freie Universität fällig.

Im Juli 2023 machte ein schwerer Arbeitsunfall in der Tierklinik das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit (Lagetsi) auf Mängel in der Arbeitssicherheit aufmerksam. Dem Vorfall war eine Überlastungsanzeige des betroffenen Mitarbeiters vorausgegangen. Eine schriftliche Anfrage »Zu Tarifverstößen und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten an der Veterinärmedizin der FU« von Tobias Schulze, Sprecher für Wissenschaft und Forschung der Linken im Abgeordnetenhaus, vom März 2024 legt offen, dass es im Zeitraum seit Jahresbeginn 2021 insgesamt 157 Anträge auf Höhergruppierung, 81 Kündigungen und mehrere Gerichtsverfahren wegen Missachtung der Mitbestimmung und Informationsrechte gegenüber dem Personalrat gab.

In der Wahlzeitung der offenen ver.di-Liste zur gerade abgeschlossenen Neuwahl des Personalrats der Freien Universität ist ein Interview mit einer Reinigungskraft der Veterinärmedizin zu lesen. Sie ist eine von zwei Reinigungskräften, die im Sonderdienst an der Freien Universität angestellt sind, alle anderen Reinigungskräfte kommen über eine Fremdfirma. Diese Firma sei »unschlagbar günstig«, höre sie oft, dabei gehört sie selbst mit einer Eingruppierung in die Entgeltgruppe 2 des Tarifvertrags der Länder schon zu der zweituntersten von insgesamt 15 Entgeltgruppen. Eine Wohnung in der Nähe ihres Arbeitsplatzes könne sie sich daher nicht leisten, sie pendelt täglich 50 Kilometer zur Arbeit.

Die genannten Beispiele zeigen: Die Beauftragung privater Unternehmen wie Capital Infradienst und Konsorten hebeln nicht nur Arbeitsrechte und Tarifbindung aus, sondern verschärfen Lohndumping und die systematische Abwertung von Berufsgruppen der öffentlichen Daseinsvorsorge – die im Fall der Gebäudereinigung zu großen Teilen von migrantischen und geflüchteten Frauen ausgeübt werden. Von Seiten der Freien Universität hieß es gegenüber dem Wallfraff-Fernsehteam bislang nur, man wolle der Angelegenheit nachgehen.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -