- Kultur
- Neue Leipziger Schule
Selbstgespräche einsamer Bilder
Tim Eitel zeigt in Rostock die Welt als Simulation
Alle Kunst lebt von der Erinnerung. Dies ist ein anderes Wort für jene Bilder, die aus unserem Innern emporsteigen. Aber die Bilder wechseln, zerfallen oder überschneiden sich. Erinnerung also scheint eine Fließmasse, die es immer wieder neu in eine Form zu bringen gilt. Vielleicht ist das mit »Nachbilder« im Titel der Ausstellung gemeint?
Tim Eitel, geboren 1971 in Leonberg (Baden-Württemberg), umkreist dieses Thema in seinen Werken ständig: die Künstlichkeit der Kunst, der man nicht auf naive Weise unter Ausschluss des Denkens beikommt, sondern nur, indem man das Gesehene gleichzeitig reflektiert.
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Die Resultate dieser Selbstbefragung lassen sich nun in der Rostocker Kunsthalle besichtigen: Denkbilder, die mit dem manipulativen Moment des Sehens auf intelligente Weise spielen, mittels vertikaler Bildteilungen und Bildverdopplungen etwa. Die hier gezeigten Bilder wollen nicht überwältigen, den Betrachter gefangen nehmen, sondern sie lassen ihm Fluchtwege – er kann an ihnen mehr oder weniger interessiert vorbei gehen, ohne sich von ihnen einfangen zu lassen. Ist das nun eher ein Gewinn oder ein Verlust an Bildwirkung?
Immerhin 54 Gemälde und Aquarelle sind unter dem Titel »Vorschläge für Nachbilder« versammelt. Es geht hier offensichtlich um das, was von den einmal gesehenen Personen und Gegenständen im Gedächtnis überdauert und was – viel später – dann auf unerwartete Weise im Werk wieder aufersteht. Als bloßer optischer Nachklang dessen, was man einst geschaut hat? Ein Déjà-vu jedenfalls, das in den Bildern von Tim Eitel etwas Gespenstisches bekommt.
Der Ausstellungsort, die Rostocker Kunsthalle, steigert diesen Wiedergänger-Effekt noch. Ich erinnere mich an die Ostseewoche, diese bis 1975 regelmäßig in Rostock stattfindenden Festtage unter Teilnahme aller Ostseeanrainer (die Veranstaltung war Teil der internationalen Anerkennungspolitik der DDR) – aber für mich als Kind hatte das bunte Treiben, das selbstverständliche Zugleich von Ost und West, etwas von weltoffener Woodstock-Atmosphäre, die in der späten DDR dann so nicht mehr vorkam. Natürlich ist das schon wieder so ein mehrfach belichtetes Rückschau-Bild, denn damals wusste ich natürlich noch nichts von Woodstock. Die Kunsthalle wurde 1969 als einer der zentralen Orte der Ostseewoche gebaut – der höchst funktionale Glas-Beton-Bau öffnet sich zum davor liegenden kleinen See, dessen bewachsene Ufer Skulpturen bergen, darunter »Der Aufsteigende« von Fritz Cremer.
Wie gut, dass dieser in der Nachwendezeit fast schon ruinierte öffentliche Ort mit Jörg-Uwe Neumann einen Enthusiasten fand, der die Kunsthalle seit 2009 in Eigenregie leitet. Seitdem gibt es wieder bedeutende Ausstellungen, die bewusst die Tradition der DDR-Moderne mit der Gegenwart verbinden.
Zur Ausstellungseröffnung ist viel Publikum gekommen, auch Tim Eitel, der in Berlin und Paris lebt (wo er an der Académie des Beaux-Arts unterrichtet), mitsamt seinem während der Eröffnungsreden zu jedem Beifall freudig bellenden Hund, seiner Mutter aus dem tiefen Westen und einer »Beraterin«, was nach genauer Observanz der Marktlage klingt. Auch mehrere Leihgeber von Gemälden sind vor Ort, die sich unübersehbar exotisch geben, was dem Ganzen etwas von Pferderennbahn-Atmosphäre gibt. Was will man mehr an Vitalität von einem Ausstellungshaus erwarten?
Eitel gehört zur sogenannten »Neuen Leipziger Schule« Das meint jene Maler, die nach Tübke, Heisig und Mattheuer kamen. Als Meisterschüler studierte er bei Arno Rink, von 1987 bis 1994 war er Rektor der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Ebenso wie Neo Rauch hat auch Tim Eitel nie das figürliche Malen aufgegeben, aber er problematisiert es in seinen Werken beständig.
Körper treffen auf Räume, darunter auch leere, die wiederum zeitlosen Flächen gleichen. Dieses Sujet zieht sich durch die Ausstellung. Eitel selbst bekennt: »Jedenfalls geht für mich die Malerei nicht vom Auge durch den Pinsel auf die Leinwand, sondern ich entwerfe einen neuen Raum, eine Art von Analogie zur Realität.« Bildverdopplung wird hier zur Weltverdopplung, und wir sehen darin lauter Doppelgänger platziert. Die Welt: Zuletzt eine Stätte bloßer Weltsimulation, ein einziger Fake? Das ist die Form, die Eitel dem tradierten Motiv der Apokalypse gibt. Sie vernichtet nach wie vor alles Leben – aber wir bemerken es nicht einmal.
Hier sind Arbeiten aus den Jahren 2015 bis 2024 versammelt, darunter nicht wenige aus der Zeit der Corona-Isolation. Ein kalter Hauch von Einsamkeit weht geradezu seriell, sodass man fast von einem jener Alleinstellungsmerkmale sprechen möchte, die den Wiedererkennungswert eines Malers ausmachen. Es erinnert beinahe schon an die Michelin-Karten, auf denen ein Maler in Michel Houellebecqs Kunst-und-Markt-Buch »Karte und Gebiet« seinen Ruhm begründet.
Eitel will Räume entwerfen, die vielfach gebrochen sind. Eine trügerische Szenerie. Manchmal sind es fast schon naturalistische Szenen, Menschen in Alltagssituationen – und dann offenbart sich dem genauen Betrachter jener Sprung im Bild, eine minimale Verschiebung, die sagt: Vorsicht, glaub den einfachen Abbildern nicht! Ob er damit bei seinem Publikum nicht offene Türen einrennt, sei dahingestellt. »Square« von 2021 etwa zeigt ein große Fläche, die horizontal in helles (oben) und dunkles (unten) Grau geteilt ist. Vielleicht eine weite Landschaft, vielleicht auch nur eine Wand, gegen die der Betrachter gleich laufen wird. Ganz am rechten Bildrand aber, vielleicht zwei oder drei Prozent der Leinwand einnehmend, ist eine Vertikale eingezogen, wie ein Balken. Darauf sind winzige farbig-figurative Spuren zu erkennen.
Das ist die Welt von Tim Eitel. Fast vollständig künstlich, mit Einsprengseln von Natürlichem. Für Eitel ist Malen offenbar eine Form des visuellen Experiments. Das zeigt auch die Wahl seiner Mittel. Nicht nur Öl auf Leinwand finden wir, oder Aquarell auf Papier, sondern auch (selbst hergestelltes) Eitempera auf Holz. Es trocknet schnell und erzeugt jene matte Nebelatmosphäre, die Eitel bevorzugt.
»Reflector« von 2015 kann man wohl als Hauptwerk der Ausstellung bezeichnen. In diesem Bild bündelt sich alles, was Eitels Werk ausmacht. Wir sehen einen breit und dunkel gerahmten Bildausschnitt, der den Blick auf Baumstämme und angedeutete Figuren lenkt. Zentral darin eine helle Lichtquelle, eine »Leuchte«, wie sie Richard Wagner am Ende von »Tristan und Isolde« verlöschen lässt. Keine natürliche Lichtquelle (auch keine übernatürliche), sondern ein illuminierter Schirm, wie ihn Fotografen zur Aufhellung eines Sets benutzen. Und dann bemerken wir, dass auf der rechten Seite der Leinwand etwa ein Drittel des Bildes wie einkopiert wirkt, mit jener winziger Verschiebung, die für Eitel so typisch ist.
Nicht entscheidbar, ob es sich dabei um eine Freiluftszene oder aber eine bloße Waldkulisse, etwa eine Fototapete, handelt. Das wirkt sehr vorsätzlich verrätselt. Der Zauber aber liegt im Auge des Betrachters – oder eben nicht. Eitel weiß dies natürlich, wenn er sagt: »Den Dialog muss die Leinwand dann ohne mich fortführen.«
»Tim Eitel. Vorschläge für Nachbilder 2015–2024«, bis zum 8. September, Kunsthalle Rostock
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