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- Gedanken zur Fußball-EM
Malerisch bunte Trotzpflaster
Die letzten Stadien der Menschheit sind wieder mal erreicht, die Fußballstadien
Ein Fest steht an? Kapital im wahren Sinne des Wortes. Ein Ratschlag zur Stunde: Nimm ein Blatt vor den Mund! Vergiss alles, was gegen so eine EM spricht! Gib dir feierlich Mühe, sag ich mir, vergiss dieses Geldscheffeln, den falschen Glanz. Kürzlich war in der Zeitung zu lesen, Fußball sei eine »hegemoniale Kulturpraxis unseres Zeitalters« und wirke daran mit, dass die herrschende gesellschaftliche Ordnung befestigt und naturalisiert würde. Ächz. Wach sei ein Geist nur dann, wenn er »die Aufdeckung der Herrschaftseffekte« betreibe, die vom profitablen Fußball ausgehen. Noch einmal: Ächz.
Das alles vergiss, sag ich mir. Das ganze Jahr üben wir den flüssigen Maskenwechsel, da wird uns doch jetzt nicht das Gesicht ausgehen für ein bisschen Lust am Spiel von Millionären. Trau dir was zu, sag ich mir. Ganz positiv. Ich tu, als könne ich momentan nicht anders: Vorfreude.
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Europa tritt an, und Fernsehkameras tasten nun wieder Reihen von Spielern ab, die eine Hymne singen und Hände an die Herzgegend legen, als sei’s die neue Hosennaht. Diverses Heimatgefühl auf Zeit macht sich bemerkbar. Gewiss, es wirkt ein wenig gehetzt, dieses Gemüt. Weil es wenig Zeit hat, sich zu entfalten. In Bälde nämlich spielt der Pole wieder in England, der Deutsche in Spanien, der Kroate in Schweden. Die jeweils dortige Lohntüte, das ist die eigentliche Heimat. Na und, sag ich mir, man kann der fragwürdigen Welt auch mal über den Kopf streichen, ohne immer gleich die Haare zu zählen.
Nationalmannschaft, Nationalhymne, nationales Empfinden. Es sind dies, bis hinein in die Haut- und Kostümfarbspiele der Fans auf den Rängen der Stadien, die letzten Ausläufer einer porösen Bindung; auf dem globalen Wege in ihre Auflösung malt diese Verbundenheit malerisch bunte Trotzpflaster auf die Gesichter der Fußball-Besessenen. Der Mensch ist eben nicht ohne jenes Pathos denkbar, das ihn unter ein Banner ruft. Wir sind Revierwesen, und so ist auch eine Fußball-Europameisterschaft beides zugleich: kontinentale Öffnung und leidenschaftlicher Regionalismus. Der hiesige leuchtet nun mal schwarz, rot, gold – und hell gegen den Internationalismus einer einschläfernden Abgeklärtheit, der jene Gesichter produziert, die sich nur immer zur Faust ballen, wenn sie eine deutsche Flagge flattern sehen.
Der Fußballsport ist ein Freiheitsraum, in dem geschieht, was immer geschieht: Der Ball gehört nicht einer Mannschaft allein. Schöne Unwucht der Vorwärtswege. Fußball ist wie Existenz überhaupt: eine Beschwörung von Freiheit (der Spieler, der losstürmt) und zugleich eine unaufhörliche Blamage des Freiheitsbewusstseins (durch den Spieler, der blöderweise im Weg steht). Wer handelt, verstrickt sich in des Lebens Fremde – die man daran erkennt, dass sie die andersfarbigen Trikots trägt.
Fußball ist die Religion, die nicht weiter hinaufreicht, als ein Ball fliegen kann. Apostel sind nicht gefragt. Der hin- und herfliegende Ball ist so attraktiv, dass für ihn überhaupt nicht missioniert werden muss. Und doch beschwören wir ihn: den Fußballgott. Er kam sogar in der DDR vor, im Defa-Film »Der nackte Mann auf dem Sportplatz«, es war in einer Grabrede auf einen Provinzfußballer – allerdings wurde da ganz atheistisch lieber vom »großen Schiedsrichter« gesprochen, der den Verstorbenen »aufs höhere Spielfeld« berufen habe.
Der Fußballgott ist notwendig, weil Fußball nicht mit der Hand gespielt wird (außer von Maradona, aber er war die »Hand Gottes«). Die menschliche Hand ist ein zielsicheres, genau steuerndes Führungsorgan – deshalb fallen beim Handball so viele Tore. Nicht beim Fußball. Der Fuß ist zum Stolpern da, mit ihm kann man keine Stullen schmieren, und einen Brief schreiben können wir Gewöhnlichen mit den Füßen nicht mal im volltrunkenen Zustand. Nur wenn wir uns genau diese fatale Lage vergegenwärtigen, können wir uns in etwa ausmalen, was Fußballer leisten müssen. Der Fuß ist vom Naturell her kopflos. Also wundert niemanden, wie diese Dauertrainierten kurz vorm gegnerischen Tor, in wild entschlossener Unkontrolliertheit, ihre Bälle so in den Himmel setzen, dass diese sofort auf die Vermisstenlisten von Interpol kommen. Unsere Füße sind Idioten. Dürfen aber zu einer Europameisterschaft, als wären sie Barenboims Klavierfinger. Diese Welt ist so tolldreist wie rätselhaft!
Zur Zukunft gehört Vergangenheit. Was kommt, weckt auch Erinnerung. Am 14. Juli ist das EM-Endspiel im Berliner Olympiastadion angesetzt. Für immer verbunden bleibt dieser Ort mit einer 110. Minute – Endspiel der Weltmeisterschaft 2006, es war der 9. Juli 2006: Zinedine Zidane setzte zum Kopfstoß gegen den Italiener Marco Materazzi an. Feldverweis. Das französische Fußballwunder beendete auf spektakulär fremdartige Weise seine Karriere. Ein Charakter, der sich, im gesteuerten Affekt, einem glücklichen Ende verweigerte. Ein Erfolgreicher, der den Erfolg nicht mehr ertragen konnte, nicht mehr die Welt, nicht mehr den Gegner, nicht mehr sich selbst. Das eben ist große Kunst: Lücken ins routinierte Wertungsgefüge zu reißen.
Damals: Sekunden von schwindelerregender Ambivalenz, in denen Schönheit und Schwärze sich miteinander verbanden. Ist das Verklärung? Na und! Wir erwarten von der Zukunft doch besonders gern das, was wir schon immer – verklärt haben. Und an solche Momente erinnern wir uns länger als an die bloßen Sieger. Welch ein Sieg.
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