- Sport
- Fußball-EM 2024
Vier Wochen Fußballherrschaft
Nach dem Anpfiff heute Abend in München wird die Europameisterschaft das Land vorerst in Atem halten
63 Meter breit, 21 Meter hoch: Da kann doch nichts daneben gehen, oder? Das »größte Fußballtor der Welt« haben die Ausrichter der Fußball-Europameisterschaft 2024 vor dem Brandenburger Tor aufstellen lassen, das Fundament reicht fünf Meter tief in die Erde, ringsum ist soviel Kunstrasen ausgelegt, dass man zehn Fußballfelder damit bedecken könnte. Die Botschaft ist klar: Hier regiert ab jetzt Fußball.
Am Mittwochabend wurde die umliegende Fanzone mit einem Konzert von Rapper Luciano vor 30 000 Zuschauern eingeweiht. Das Gelände mit Sponsorenständen und Imbissbuden erstreckt sich auf der Straße des 17. Juni, nebenan hat Adidas ein kleines Stadion errichtet, aus dessen Inneren man auf den Reichstag blickt. 24 Millionen Euro gibt die Stadt Berlin für die Fanzonen aus.
Vier Wochen lang herrscht eine Art Ausnahmezustand, wenn die 24 besten Männerteams des Kontinents ihren Meister ermitteln. 30 Millionen Tickets hätte die Europäische Fußball-Union Uefa verkaufen können, so viele Kartenbestellungen gingen online ein. 2,7 Millionen Besucher werden in den komplett ausverkauften EM-Stadien erwartet, weitere zehn Millionen Menschen aus aller Welt werden die Fanzonen bevölkern. Die »Uefa Euro 2024« ist das zweitgrößte Sportevent, das in diesem Jahr abgehalten wird. Allein Olympia in Paris wird dieses Megaturnier noch übertreffen.
Am heutigen Freitagabend geht’s um 21 Uhr mit dem Eröffnungsspiel dieser 17. Europameisterschaft in der Münchner Arena los. Rekordsieger Deutschland (wie Spanien schon dreimal Titelträger) trifft auf Schottland. Die 20 000 mitgereisten Fans der Bravehearts haben singend und schottenrocktragend bereits etliche Herzen in Bayern erobert. Weitere 50 EM-Spiele folgen ab Samstag, im letzten wird dann am 14. Juli im Berliner Olympiastadion der Europameister gekürt.
Wenn es nach dem Willen der deutschen Fans geht, dürfen Jude Bellingham (England), Ronaldo (Portugal), Mbappé (Frankreich) oder Kevin de Bruyne (Belgien) ruhig glänzen, nach dem Finale aber soll möglichst die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes jubeln. Wie gut Jamal Musiala, Florian Wirtz, Toni Kroos und die DFB-Kollegen kicken, wird die Stimmung in den Werkhallen, Supermärkten, Kneipen und Großraumbüros prägen. In den Politiker-Statements des Superwahljahrs 2024 wird die Dichte an Fußball-Allegorien steigen. Nach der Wahl ist vor der Wahl.
Turnierdirektor Philipp Lahm freut sich auf ein »rauschendes Fest«, wie er jüngst bei einer Inaugenscheinnahme des EM-Spielortes Leipzig feststellte. Leipzig richtet vier Spiele aus und beherbergt den VAR-Raum der Videoschiedsrichter. Lahm kennt Turnier-Euphorie: Der ehemalige Nationalspieler trat 2006 bei der Heim-WM mit seinem 1:0 gegen Costa Rica in der damals frisch eröffneten Münchner Arena jene Begeisterung los, die in einem dritten Platz mündete und im unverhofften Comeback der Deutschlandflagge, die plötzlich hunderttausendfach an Autotüren geklemmt wurde und fortan als zumindest tolerierbar galt. Das Sommermärchen! Jürgen Klinsmann als Bundestrainer! Poldi und Schweini als herumalbernde Jungfußballer! Und Franz Beckenbauer als Chef des WM-Organisationskomitees, wie er im Helikopter von Spiel zu Spiel fliegt!
18 Jahre ist das her, und die Welt ist längst eine andere: Franz Beckenbauer, einstmals Lichtgestalt und später der Korruption schwer verdächtig, ist tot, Bastian Schweinsteiger ein ergrautes TV-Gesicht. Der immerkorrekte Philipp Lahm reist als Turnierdirektor nicht per Hubschrauber, sondern mit dem Sponsor Deutsche Bahn zu den zehn Spielorten, von denen bis auf Düsseldorf bereits allesamt auch 2006 schon WM-Gastgeber sein durften. Kein Stadion wurde für die EM neu erbaut. Nachhaltigkeit ist eines der Zauberwörter, an dem Sportgroßveranstalter nicht mehr vorbeikommen.
Die Uefa folgt mit dem Turnier ihrem ESG-Konzept, das hohe Standards für die Bereiche Ökologie, Soziales und Governance setzt. Es gibt einen Klimafonds für Amateurvereine. Die Stadien, in denen für Barrierefreiheit gesorgt wird, beziehen Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien. Es gibt veganes Essen und Getränke aus wiederverwertbaren Behältern, Beschwerden über diskriminierendes Verhalten können über ein Online-System gemeldet werden. Eine unabhängige Großkanzlei soll Vorwürfen gegebenenfalls nachgehen.
Doch natürlich ist die Uefa weniger an guten Taten als an Profitmaximierung interessiert – im Sinne des Fußballs, so behauptet sie. Mit bis zu 1,7 Milliarden Euro Gewinn rechnete Europas Fußballunion schon im Voraus, sie sollen zu zwei Dritteln den 55 Nationalverbänden zufließen. Der »Spiegel« recherchierte, dass der Bundesrepublik wegen Steuererleichterungen für die Uefa womöglich geschätzte 250 Millionen Euro als direkte Einnahme durch die Lappen gehen. Die Redaktion von »Correctiv« wiederum fand heraus, dass die zehn Ausrichterstädte 66 Millionen mehr ausgaben als ursprünglich geplant. Allein die Spielorte verbrauchen demnach insgesamt 295 Millionen Euro.
Die Sicherheitskosten sind immens. Anspannung herrscht vor allem in Sachen Terrorabwehr. Bei der Bundespolizei und den Landespolizeibehörden gilt während der EM eine Urlaubssperre, an jedem der insgesamt 22 Spieltage werden 22 000 Beamte im Einsatz sein. In Neuss (Nordrhein-Westfalen) steuert seit Montag das »International Police Cooperation Center« die deutschen und internationalen Beamten, die im Einsatz sind. »Wir haben eine abstrakt sehr hohe Gefährdung, aber konkret liegt uns nichts vor«, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der Eröffnung des Lagezentrums.
Doch wenn alles gut läuft, spielen die Fußballer die Hauptrolle und am Ende reckt DFB-Kapitän İlkay Gündoğan den Pokal in die Luft. Ganz nebenbei würden sie eine lange Negativserie beenden: Nach Spanien (1964) und Italien (1968) gelang das letzte Mal vor 40 Jahren einem Gastgeber der Titelgewinn: 1984 wurde Gastgeber Frankreich Europameister.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.