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Bittere Erkenntnis: AfD wird stärker
Nach der Europawahl sind Berliner Kiezinitiativen gegen rechts enttäuscht, wollen aber nicht aufgeben
»Es ist fürchterlich. Ich habe wirklich Angst, dass sich Geschichte wiederholt«, sagt Silke aus dem Berliner Helmholtzkiez. Sie engagiert sich seit Monaten bei der Nachbarschaftsinitiative »Unsere Straße bleibt hell« gegen Rechtsextremismus. »Die zentrale Frage ist für mich: Warum wacht die Gesellschaft nicht auf? Wieso gibt es nicht mehr Teilnehmer bei den Protesten? Dass es nicht reicht, nicht die AfD zu wählen, um sie aufzuhalten, dürfte nun endgültig klar sein«, schließt die 50-Jährige aus der Europawahl.
Seit Anfang des Jahres ein Ruck durch Deutschland zu gehen schien, sind in Berlin verschiedene Nachbarschaftsinitiativen gegen rechts entstanden. Es hatte im Januar und Februar Großdemonstrationen gegen die AfD gegeben, nachdem bekannt wurde, dass Rechte bei einem Treffen in Potsdam über den Rauswurf von Einwanderern beraten haben. Die Initiativen treibt an, dass der Schwung der Großdemonstrationen nicht verloren gehen soll.
»Die Demokratie zu verteidigen, ist ein Marathon, ja eine Lebensaufgabe«, bringt es der Journalist und Influencer Marc Raschke auf den Punkt. Der frühere Kommunikationschef des Klinikums Dortmund, der als einer der kreativsten PR-Köpfe in Deutschland gilt, nutzt seit einiger Zeit seine Kompetenzen, um sich vor allem durch kreative Social-Media-Arbeit umtriebig für die Demokratie einzusetzen. Mit beißender Kritik bedenkt er dabei auch die CDU.
An einem der Sonntagabende in Niederschönhausen, an denen die 40-jährige Anne Adam in ihrem Kiez für die Initiative »Unsere Straße bleibt hell« eine Mahnwache organisiert, spricht dort auch Raschke. Hass und Hetze seien »längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen«, sagt er – und zeigt sich beeindruckt von der Mühe, die sich »Unsere Straße bleibt hell« oder auch »Lichterfelde weltoffen« machen.
»Die Idee ist ja, den Leuten das Engagement gegen Rechtsextremismus und für Demokratie direkt vor die Haustür zu bringen«, sagt Anne Adam. Sie und ihre Mitstreiter*innen wissen um die deutsche Bequemlichkeit und fragen sich öfter, warum sie so anders sind. »Bei unserer ersten Mahnwache hier in Niederschönhausen Anfang März waren wir 65 Leute. Da dachte ich, jetzt geht es los, beim nächsten Mal sind wir 120 und so weiter«, erzählt Adam. Stattdessen seien es schnell immer weniger Menschen geworden – eine frustrierende Erfahrung. Dennoch hat sie in Niederschönhausen bis zur Europawahl durchgehalten. Manchmal kamen 40 Menschen zusammen, manchmal waren es nur zehn.
Am Montag nach der Europawahl sucht Adam nach Worten, um ihre Schockstarre zu überwinden: »Das Gefühl der Ohnmacht ist kaum zu beschreiben. In meinem Kopf ist ein großes ›Warum?‹« Sie fragt sich: »Gab es nicht so viele Aktionen und Aufrufe gegen rechts, die genau das verhindern sollten? Aufrufe, bei der Wahl für die Demokratie zu stimmen?« Dann spricht sie die Diskrepanz an zwischen dem Gefühl, in der eigenen Internet-Blase viele zu sein, die Brandmauer zu sein, von der viele reden – und der Realität, die sich nun in diesen Wahlergebnissen widerspiegelt. »Du erkennst, dass die Gefahr, die eine Partei wie die AfD mit sich bringt, von den meisten Menschen absolut nicht erkannt wird.« Nach einer Sommerpause will die Initiative »Unsere Straße bleibt hell« weitermachen. Doch jetzt muss Adam erst mal alles verdauen. »Man ist ja auch nur ein Mensch«, sagt sie.
Seit Jahresbeginn haben auch Susanne, Ute und Silke jeden Sonntag Aktionen im Helmholtzkiez in Prenzlauer Berg organisiert. An einem Abend Mitte Mai sind etwa 40 Menschen da, ein paar Passanten bleiben stehen und mustern das Treiben neugierig. Die Sängerin Kim Seligsohn bemüht in ihrer Rede ein Zitat des Religionsphilosophen Martin Buber: »Gemeinschaft ist das Fundament, Mensch braucht Mensch.« Daraufhin singt sie mit tiefer Stimme eine sehr melancholische Version von »Motherless Child«. Als sie danach »What a Wonderful World« anstimmt, ist es einigen der um die Veranstaltung Herumsitzenden dann doch zu viel. Während manche der Teilnehmenden schüchtern mitsingen, fühlen sich ein paar der am Helmholtzplatz sitzenden Punks und Drogenabhängigen von so viel Positivität eher provoziert. »What a wonderful world?!«, wiederholt einer von ihnen und schüttelt, sich die Haare raufend und bitter lachend, den Kopf. Andere werden sogar aggressiv, grölen und bedrohen Leute.
Wenig später trifft die Polizei ein, die eigentlich schon von Anfang an da sein sollte. Die Beamten bilden einen Schutzschirm um die Versammlung. »Das ist schon ambivalent«, sagt ein Anwohner, der regelmäßig zu den Mahnwachen kommt. »Doch Demokratie lebt davon, dass man für sie einsteht.«
»Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, in dem es oft hieß, ›Wehret den Anfängen!‹«, erzählt Silke, die als Kommunikationsberaterin arbeitet. Schon immer treibe sie die Frage um, wie sich der Nationalsozialismus in der Gesellschaft durchsetzen konnte. Viele verließen sich ihrer Meinung nach auf die Verfassung. »Doch unser Grundgesetz schützt nicht vor einer Diktatur.« Der rechte Aufschwung habe nichts mit der Politik der Bundesregierung zu tun. »Ich sehe da eher die ›sozialen Medien‹ als Beschleuniger, weil dort immer mehr jede Differenzierung wegfällt.«
Auffällig ist, dass wenig junge Menschen bei den Mahnwachen mitmachen. Die 16-jährige Hannah aus dem Helmholtzkiez ist da eher die Ausnahme. Sie gehe auch auf die Demonstrationen von »Fridays for Future«, erzählt sie. »Bei ›Unsere Straße bleibt hell‹ gefällt mir vor allem, dass es im Kiez stattfindet. Der Kontakt mit den Menschen ist direkter«, erläutert sie.
Auch sie habe lange gedacht, die AfD wähle doch niemand. Wenn man sich am Helmholtzplatz umschaut, weiß man auch, warum. »Doch jetzt bekomme ich immer mehr mit, wie die Rechten die Wahrheit verdrehen und wie viele das auch unterstützen«, sagt Hannah. Dass das Wahlalter abgesenkt wurde und 16-Jährige nun auch bei der Europawahl wählen durften, findet sie gut. Doch sie gibt auch zu bedenken: »Viele Jugendliche sind schon interessiert an Politik, doch sie sind auch leicht beeinflussbar.«
Vor etwa zwei Monaten schrieb sie einen Brief an den Bundespräsidenten, den sie bei der Mahnwache auf dem Helmholtzplatz vorliest. Darin schildert sie Frank-Walter Steinmeier (SPD) ihre Sorge unumwunden: »Wie Sie in Ihrer Rede vom 21.1. sagten, sind so viele Menschen im Januar auf die Straßen gegangen, um gegen Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus zu demonstrieren, doch nun?« Noch vor dem 9. Juni kam dann sogar eine Antwort. Der Bundespräsident ermunterte Hannah, auf das Wahlrecht aufmerksam zu machen.
Es hat nicht viel genützt. Anne Adam in Niederschönhausen macht das wütend. »Oft sagten in den vergangenen Monaten Nachbarn zu mir, ›tolle Aktion gegen rechts, wir kommen auch‹. Aber sie kamen nie. Genau das spiegelt für mich diese Gesellschaft wider: Es ist ihnen im Grunde egal und sie werden alle erst aufwachen, wenn es zu spät ist und sie ihrer Freiheiten beraubt werden.« Auch den vielen jugendlichen Erstwähler*innen, die für die AfD gestimmt haben, will die 40-Jährige am liebsten zurufen: »Das ist kein albernes Handygame, in dem man ungeniert austesten kann, an welche Grenzen unser Land kommen kann! Es ist bittere Realität, keine virtuelle Realität, und ihr werdet euch noch umschauen, wenn gerade ihr so eure Zukunft und alles, was demokratisch bisher für euch erreicht wurde, verspielt.«
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