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Israel: Militarisierung nach innen
Im Schatten des Krieges findet auch in der israelischen Gesellschaft eine Brutalisierung der Debatte statt – mit Gefahren für oppositionelle Kräfte
Seit über acht Monaten sind die israelischen Fernsehzuschauer*innen es gewohnt, dass die abendlichen Nachrichten-Sendungen mit Neuigkeiten über die israelischen Geiseln und die militärische Lage an den verschiedenen Kriegsfronten – im Gazastreifen, im Westjordanland und an der Grenze zum Libanon – beginnen. Diese Berichte verwenden nahezu ausschließlich Videoaufnahmen der Pressestelle der israelischen Armee, die die Kampfhandlungen aus Sicht der Israelis dokumentieren und die Taten der Soldat*innen entsprechend heroisch darstellen. Für viele (jüdische) Israelis sind diese Sendungen die einzige Informationsquelle über die Entwicklungen seit dem 7. Oktober – und die israelische Regierung ergreift zunehmend Schritte, um alternative Nachrichtenangebote einzuschränken, wie das kürzlich beschlossene Betätigungs- und Sendeverbot für den katarischen Nachrichtensender Al-Jazeera zeigt.
Rebellion der Reservist*innen?
Am letzten Wochenende im Mai jedoch machten die Nachrichtensender mit einer außergewöhnlichen Meldung auf: Ein israelischer Reservist habe öffentlich mit Rebellion gedroht. Zu sehen war ein mit Handykamera aufgenommenes Video, in dem ein Mann in voller Kampfmontur und mit Maschinengewehr vor einer Wand voller rechtsextremer Slogans posiert. Der Soldat schwört darin dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu seine bedingungslose Gefolgschaft. Gleichzeitig verweigert er dem Oberbefehlshaber der israelischen Armee Herzi Halewi und Verteidigungsminister Joaw Galant die Loyalität, da diese, wie er vor dem Hintergrund dramatisch anmutender Musik beteuert, »diesen Krieg nicht gewinnen können«.
Der Mann gibt vor, für die rund 100 000 Reservist*innen zu sprechen, die seit dem 7. Oktober 2023 von der Armee eingezogen wurden, indem er sagt: »Wir werden die Schlüssel für Gaza keiner palästinensischen Entität übergeben. […] Wir haben jetzt eine einmalige Gelegenheit, diesen Krieg zu gewinnen. Du [Netanjahu] hast 100 000 Reservisten hinter dir, die bereit sind, für das Volk Israel zu sterben.« Die Botschaft lautet: Wer jetzt über einen Austausch der Geiseln gegen palästinensische Gefängnisinsassen in Israel nachdenke – gemeint sind hier Galant und Halewi –, verrate die israelische Bevölkerung und sei deshalb als innerer Feind zu betrachten: »Wir werden hier bis zum Ende bleiben, bis zum Sieg.«
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung unterhält mehr als zwei Dutzend Auslandsbüros auf allen Kontinenten. Im Rahmen eines Kooperationsprojektes mit »nd« berichten an dieser Stelle regelmäßig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Entwicklungen in den verschiedensten Regionen. Alle Texte auf: dasnd.de/rls
Das Video sorgte für hitzige Diskussionen und löste Sorge um die Kriegsmoral der Reservist*innen aus, denn sie spielen eine tragende Rolle seit Beginn des Krieges, der in Reaktion auf das Massaker der Hamas vom 7. Oktober begann. Mit Ausnahme des Fernsehsenders Arutz 14 (Kanal 14), dem israelischen Pendant zum US-Sender Fox News, der den Soldaten zur besten Sendezeit als Gast ins Studio einlud, war sich die überwiegende Mehrheit der Beobachter*innen einig, dass es sich bei diesem Statement um die Androhung einer Rebellion handelte. Es überraschte daher nicht, dass die Militärpolizei den Reservisten rasch ausfindig machte und aus dem Reservedienst ausschloss.
Die Militarisierung der Gesellschaft
Während also der Großteil der Expert*innen hinsichtlich der »Kampfmoral« besorgt auf diese Entwicklungen blickte, gibt es aus einer antimilitaristischen linken Perspektive viel grundlegendere, besorgniserregende Punkte, die die Debatte um das Video aufwirft. Da wären zunächst die desaströsen Folgen zu nennen, die die fortgesetzt zerstörerische Kriegsführung Israels – trotz internationaler Verurteilungen und konkreter Schritte der internationalen Gerichtsbarkeit – im Gazastreifen hat. Das daraus resultierende unermessliche Leid mit inzwischen annähernd 40 000 Toten ist zudem Teil einer noch umfassenderen Katastrophe, die viele Palästinenser*innen – auch wegen der damit zusammenhängenden massenhaften Vertreibung – als »zweite Nakba« bezeichnen.
Doch auch im Hinblick auf die innere Verfasstheit der (jüdisch-)israelischen Gesellschaft, die sich in wachsender politischer, medialer und kultureller (Selbst-)Isolation von der internationalen Gemeinschaft befindet, werfen die jüngsten Entwicklungen die Frage auf, wie die seit dem 7. Oktober weiter gestiegene Militarisierung auf die binationale israelische Gesellschaft rückwirken wird.
Der Historiker Ofri Ilani hat dieses Phänomen unzufriedener, aufrührerischer Reservist*innen kürzlich in seiner »Haaretz«-Kolumne kontextualisiert. Er führte dabei auch das Beispiel USA an, wo es sich bei einem beträchtlichen Teil der Mitglieder rechtsradikaler Milizen, die am Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 beteiligt waren, um Veteranen der US-Streitkräfte handelt. Seine Kernthese: Zornige, aus dem Krieg entlassene Soldaten gehören zu den politisch gefährlichsten Gruppen.
Diese Reservist*innen bergen schon durch ihre Bewaffnung ein großes Risikopotenzial für die Bevölkerung Israels – allen voran für jene Gruppen, die sie für das Scheitern ihrer Kriegsziele verantwortlich machen. Im gegenwärtigen israelischen Kontext sind dies »die Linken« (im israelischen Sinne meint dies alle, die sich 2023 in den Massenprotesten gegen die sogenannte Justizreform versammelten); die Angehörigen der Geiseln im Gazastreifen, die seit Monaten – und angesichts immer neuer Hiobsbotschaften von ums Leben gekommenen Geiseln – für einen Gefangenenaustausch demonstrieren; die palästinensischen Staatsbürger*innen des Landes und schließlich die Anti-Besatzungs-Aktivist*innen, die sich der Agenda der militärischen Stärke nicht unterordnen wollen.
Auch in Teilen der israelischen Gesellschaft wächst die Einsicht, dass eine Weiterführung des Krieges nicht im Interesse Israels liegt.
Zur fortschreitenden Militarisierung der israelischen Gesellschaft gehört auch eine Politik der niedrigschwelligen massenhaften Bewaffnung jüdischer Israelis, die auf Anweisung des Ministers für Nationale Sicherheit Itamar Ben Gwir erfolgt. Laut Angaben des Ministeriums erhielten infolge des Krieges bis zum Frühjahr 2024 über 100 000 Israelis einen neuen Waffenschein – dass dabei grundlegende Prüfmechanismen ausgesetzt und Anträge von unzureichend ausgebildeten Angestellten geprüft wurden, hat bis dato keine Konsequenzen nach sich gezogen.
Israel befindet sich also nicht nur außenpolitisch einmal mehr am Scheideweg. 57 Jahre nach Beginn der völkerrechtswidrigen Besatzung und Entrechtung der Palästinenser*innen im Westjordanland wie im Gazastreifen und inmitten einer existenziellen Krise erlebt die Gesellschaft eine weitere innere Verrohung der Diskurse, man könnte gar von einer Brutalisierung sprechen. Dies erlebte der Verfasser dieses Beitrags erst kürzlich auf einer offiziell von der linken palästinensischen Oppositionspolitikerin Aida Touma-Sliman im israelischen Parlament, der Knesset, veranstalteten Konferenz zur Notwendigkeit der schnellstmöglichen Anerkennung eines Staates Palästina. Dort stürmten zwei Abgeordnete von Regierungsparteien mitten in der Veranstaltung den Saal – ohne Eingreifen der Sicherheitskräfte –, um ihre faschistoiden und genozidalen Tiraden von sich zu geben. So sagte der messianische Siedler und Abgeordnete Zvi Sukkot etwa, an die linken palästinensischen Abgeordneten gerichtet: »Ihr seid die Feinde, ihr seid alle Terrorunterstützer, und wir werden euch von hier fortjagen, alle. Es wird niemals einen palästinensischen Staat geben.«
Zugleich wächst die Repression gegen palästinensische Staatsbürger*innen des Landes und gegen Anti-Kriegs-Aktivist*innen weiter, und auch politische Hetzkampagnen gegen kritische Intellektuelle und Wissenschaftler*innen nehmen zu. Zusammen ergibt dies einen gefährlichen Mix, der die hiesige Bevölkerung außenpolitisch in die Isolation treibt und innenpolitisch die Spaltung befördert.
Widerstand gegen den Krieg
Dabei wächst auch in Teilen der israelischen Gesellschaft die Einsicht, dass eine Weiterführung des Krieges – ohne erkennbares Ziel und ohne Aussicht auf Befreiung der noch über 120 Geiseln, die sich seit 256 Tagen in der Gewalt der Hamas befinden – nicht im Interesse Israels liegt. Zwar mündet diese Erkenntnis noch nicht in eine breite Anti-Kriegs-Bewegung, aber genau hierauf zielen linke jüdisch-palästinensische Bemühungen – wie etwa Shutfut HaShalom (Friedenspartnerschaft), die auf Initiative führender Mitglieder der linken Hadasch-Partei zivilgesellschaftliche Organisationen für eine Kampagne zur Beendigung des Krieges mobilisiert. Obwohl die Proteste stetig wachsen, hat diese Initiative es bislang nicht vermocht, jene für die Kampagne zu gewinnen, die zwar den Militäreinsatz in Gaza nach dem 7. Oktober nicht grundsätzlich ablehnen, aber zugleich immer vehementer gegen die Vernachlässigung der israelischen Geiseln protestieren und einen Waffenstillstand zugunsten eines Geisel-Deals befürworten. Die politische Analystin Dahlia Scheindlin sieht hier durchaus ein Mobilisierungspotenzial für die Anti-Besatzungs-Linke.
Doch all diesen, durchaus existenziellen, internen Spaltungen zum Trotz: Auch und gerade in Zeiten, in denen international immer lauter auf einen Stopp der Kriegshandlungen gedrängt wird, überwiegt in der jüdisch-israelischen Bevölkerung das Empfinden, international nicht verstanden beziehungsweise falsch behandelt zu werden. Angetrieben durch eine allein auf die israelische Seite fixierte Berichterstattung der überwiegenden Mehrheit der israelischen Medienhäuser, gerät ein Großteil der Gesellschaft in einen Kreislauf aus Trotz und Unversöhnlichkeit gegenüber all jenen, die nicht dem Narrativ des »notwendigen Krieges« folgen.
Dennoch erfordert die schiere Unhaltbarkeit der Situation aufseiten des sich in Israel derzeit neu sortierenden »Friedenslagers« eine weitere Anstrengung, die eigene Basis und Reichweite innerhalb Israels zu erweitern. Es ist gerade viel in Bewegung, und es gibt das ausdrückliche Bemühen von Akteur*innen aus Politik und Zivilgesellschaft, ideologische Unterschiede zugunsten eines großen gemeinsamen Ziels hinter sich zu lassen: nämlich die sofortige, dauerhafte Beendigung des Blutvergießens in Gaza, die sofortige Freilassung aller Geiseln durch einen Gefangenenaustausch sowie die politische Initiative für ein gemeinsames Leben von Israelis und Palästinenser*innen in Gleichheit, Gerechtigkeit und Würde. Es ist unabdingbar, dass diese praktischen und politisch machbaren Initiativen in der internationalen Linken stärker wahrgenommen werden.
Gil Shohat leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.
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