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Tschüss, du kühler Weißwein!
Dinge kommen in Ordnung, Gefühle kommen zurück – wenn man aufhört zu trinken
Prost! Onkel Albert! Mach die Leinen los» – der Mitklatschhit des zu Recht vergessenen Schlagersternchens Manuela hängt seit über 50 Jahren in meinem musikalischen Gedächtnis rum. «Onkel Albert» bot als Figur so ungefähr alles, was sich die Fernsehgemeinde in Ost und West Anfang der 70er Jahre als Role Model wünschte. Er hatte ein Bötchen und nur noch bescheidene Träume. Er besoff sich mithilfe von Rum mit Tee, auf dass er vergaß, dass er es nie im Leben bis Hawaii schaffen würde.
Das Publikum der «ZDF-Hitparade» feierte das Onkel-Liedchen, das auf keiner Party fehlen durfte. Auch in meiner Heimat Mecklenburg nicht, wo allerdings anders gesoffen wurde. Den Schnaps gab es ohne Tee, und es wurde eher nicht gesegelt. Jedenfalls nicht von der ländlichen Bevölkerung. Ich erinnere mich an keinen einzigen Menschen im Personal meiner Kindheit, der abstinent gelebt hätte. Alkohol war normal, billig, überall vorhanden und der Tröster in jeder Not.
Gab es einen DDR-typischen Engpass an beispielsweise klarem Schnaps, wurde Tante Ursel in der Apotheke um 70-prozentigen Primasprit angebettelt und schon war die häusliche Eierlikörproduktion gesichert. Was für ein Spaß, wenn die Kinder heimlich die Gläser ausgeleckt und dann so einen süßtaumeligen Gang hatten!
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Die offizielle Initiation fand dann bei der Jugendweihe statt. Dort wurde den 14-Jährigen traditionell der erste Alkohol ihres Lebens gereicht. Nicht legal, aber normal und egal. Und für uns alle war es durchaus nicht das erste Mal. Von Gras hatte ich als Jugendliche in der ostdeutschen Provinz höchstens gelesen. Bunte Pillen allerdings klauten wir aus den Hausapotheken unserer Eltern oder gleich bei Ferienjobs im Krankenhaus. Hartes Zeug war das, die Inhaltsstoffe lesen sich heutzutage wie die geheime Speisekarte des Berghain. Meine kriegstraumatisierten Eltern standen jahrelang tagsüber unter Speed und nachts unter Valium. Dazu gab es den allgegenwärtigen Alkohol als soziales Schmiermittel und stets verfügbaren Schleier über einem schwierigen Alltag.
Meine erste Schwangerschaft mit 20 und zu Beginn des Studiums in Berlin stoppte zunächst alle im Keim angelegten Süchte. Vorschriftsmäßig trank und rauchte ich nicht mehr. Später, als junge Akademikerin kurz vor dem Mauerfall, war es schicker, auf Rotwein umzusteigen. Die Agonie der späten 80er Jahre schien nüchtern unerträglich. Ich war inzwischen Kuratorin für Fotografie in einem Museum in der Provinz. Eigentlich ein Traumjob, aber der Laden war voller Stasi und die Kulturpolitik im Koma. Um 16 Uhr holten alle die Flaschen aus dem Schreibtisch. Mich rettete, dass ich um diese Zeit schon vor dem Kindergarten meines Sohnes stand.
Als gesamtdeutsch angekommene Intellektuelle stieg ich auf moderaten Weißweinkonsum um. Unterbrochen wurde dieser von einer weiteren Schwangerschaft mit meiner Tochter und einer langen Stillzeit. Alkohol spielte so gut wie keine Rolle mehr in meinem Alltag. Aber die Einschläge kamen näher. Die ersten Freund*innen, Weggefährt*innen, Kindheitsgeschwister kamen uns durch das Trinken abhanden. Sie wurden verrückt, bauten Unfälle, brachten sich um oder starben ganz profan an der Sucht, manche kaum 40 Jahre alt. Wir konnten es nicht fassen und stießen auf den Trauerfeiern auf ihr Wohl im Himmel und der Hölle an. Alle Lebenden tranken weiter, aber der Exzess der Toten begann uns Angst zu machen.
Mit dem fortgeschrittenen Alter und einem gewissen Einkommen schlich sich die tückischste Wölfin unter den Suchtgesichtern an: das Wohlstandstrinken. Ich fand mich auf gutbürgerlichen Weinproben wieder. Auf Empfängen, bei denen edelste Tropfen gratis waren. Bei Essen, bei denen wir uns nicht mehr über unser Leben, sondern über Hanglagen und Bordeaux-Jahrgänge unterhielten. Das Rauchen hatte ich längst aufgegeben, wollte ich doch kein schlechtes Vorbild für die Kinder sein. Aber ich stritt durchaus mit einer halben Flasche Wein im Kopf mit meiner Teenagertochter über unaufgeräumte Zimmer und Pubertätsgepöbel. Was überhaupt keine gute Idee ist.
Mein Mann entkorkte die erste Flasche täglich um 19 Uhr, irgendwann war er auf 17 Uhr upgegradet. Ich machte mehr oder weniger mit. Wir tranken nun täglich Wein. Nicht bis zum Rausch, aber Auto fahren nach der «Tagesschau»? Eher nicht …
Als mein Mann sich eines Tages in eine Jüngere verliebte und mich holterdiepolter verließ, wusste ich, dass ich mich auf sehr dünnem Eis befand. Alkohol kumpelte sich jetzt richtig ran. Als Tröster, als Trotzkopf, als Schlafmittel. In dieser Zeit kam ich erstmals katerbedingt morgens nicht hoch und fehlte bei der Arbeit. Ich riss mich zusammen. Es klappte zunächst, und ich redete mir ein, ich hätte alles im Griff.
Katastropheneinsätze, den schnellen Sprint, habe ich immer gewuppt. Mir wird die Langstrecke gefährlich. Das Durchhalten frustrierender Phasen, in denen gar nichts passiert und mir wenig gelingt. Irgendwer oder irgendwas soll mich entschädigen. Und wenn eine Substanz das verspricht, dann Alkohol. Der hält die Klappe, ist da, wenn frau ihn braucht, und verspricht sogar so etwas wie Emanzipation. Dass ich an weinseligen Abenden mit gestandenen Männern mithalten konnte, machte mich stolz. Zumindest bis zum Morgen. Da hatte ich einen Kater und Kummer und schlechtes Gewissen.
Die Wechseljahre waren halbwegs gnädig mit mir. Allerdings suchten mich mehr und mehr splattermovieartige Albträume heim, die durch das Eintreffen von Corona in unser aller Leben nur noch plastischer wurden. Außerdem schien sich das häusliche Alleintrinken in Lockdown-Zeiten nicht nur bei mir endgültig einzunisten. Ich machte Sport, Therapie, meine Übungen, kluge Sprüche. Wie fast alle meiner Freundinnen. Wir schickten uns witzige Filmchen über trotztrinkende Mütter, die versuchen, die Zumutungen des Homeschooling zu überstehen. Hatten wir akuten Kummer, besprachen wir ihn und prosteten uns abschließend zu. Wir lallten nicht, wir motzten nicht, wir kotzten nicht. Aber alle tranken wir zu viel.
Mitten im Sommer, der Zeit der wieder erlaubten Grillpartys und lauschigen Nachtigallnächte, hatte ich genug. Ich las – mit halb zugekniffenen Augen – völlig verschiedene Berichte von Frauen über ihre Suchtkarrieren und ihr Trockenwerden, zum Beispiel «Dry» von Christiane Koschmieder. Und dann hörte ich auf. Tschüss, du kühler Weißwein! Ich wusste einfach, dass ich mein letztes Glas getrunken hatte. Ich kann stark, aber auch romanhaft labil sein. Ich brauche klare Beschlüsse.
Dieser für mich denkwürdige August liegt mittlerweile zwei Jahre zurück. Eine Zeit ohne alkbefeuerte Dramen, Sonntagskater und ohne das schlechte Gewissen, mal wieder etwas gesagt, geschrieben, getan zu haben, das ich nüchtern betrachtet auf gar keinen Fall gesagt, geschrieben oder getan hätte. Und so hat sich bei der Gelegenheit eine sowieso nicht besonders intensive Affäre in Luft aufgelöst. Wir waren uns im Bett nie nüchtern begegnet, nun begegneten wir uns nicht mehr. Was nicht gegen die Nüchternheit, sondern eher die Art der Affäre spricht. Will sagen: Ich räume auf. Ich entgifte. Dinge kommen in Ordnung. Gefühle kommen zurück. Haut und Stimmung werden besser. Kontostand ebenfalls. Alte Wogen glätten sich.
Für mich geht nur ganz oder gar nicht. Kontrolliertes Trinken funktioniert bei allen, die nie ein Problem mit Alkohol hatten. Für mich könnte es eine fiese Falle sein, die ich keinesfalls ausprobieren möchte.
Ja, hin und wieder fehlt mir ein Rausch, und ich denke wehmütig zurück. Aber eher wie an einen toxischen Geliebten. Da fällt die Verwüstung, die man in sich hat anrichten lassen, ja auch manchmal präsenilem Vergessen anheim, und man fantasiert von den berühmten «auch guten Zeiten». Nix da! Für mich jetzt Tonic ohne Gin.
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