- Politik
- Daseinsvorsorge auf dem Land
Eine Mitfahrgelegenheit für Konfitüre und Kartoffeln
Das Projekt »lokalka« will in der ländlichen Lausitz die Nahversorgung neu organisieren
Annegret Knieß zog einst aufs Dorf, weil sie ihre Ruhe haben wollte. Der Ort, an dem sie sich niederließ, ist Rosenhain: 445 Einwohner, zwischen Feldern verstreute Gehöfte und Häuser, ein Autohändler an der Bundesstraße, ein Bahnviadukt, aber kein Haltepunkt. Auch sonst ist wenig los im Ort. Gaststätte, Schule, Konsum: »Nach und nach ist alles verschwunden«, sagt Knieß. Und auch um das dörfliche Leben ist es nicht mehr gut bestellt. 1994 wurde Rosenhain im Zuge der ersten sächsischen Gemeindereform nach Löbau eingemeindet. Im dortigen Rathaus standen die Belange der Ortsteile nicht sehr weit oben auf der Tagesordnung. Mangelnde Zuwendung und Förderung sorgten dafür, dass nach und nach auch viele Vereine die Arbeit einstellten, zuletzt der Förderverein für die Freiwillige Feuerwehr. »So ruhig«, sagt Annegret Knieß, »wollte ich es dann doch nicht.«
Rosenhain ist in Sachsen keine Ausnahme. Im ländlichen Raum haben sich in den zurückliegenden Jahrzehnten gravierende Veränderungen vollzogen – aus einem ganzen Bündel an Ursachen. Mit dem Ende der DDR und dem Übergang zur Marktwirtschaft brachen viele Firmen zusammen und Arbeitsplätze weg. Die Folge war eine Abwanderung ohne Beispiel; ganze Altersgruppen und nicht zuletzt junge, gut ausgebildete Frauen suchten sich Arbeit in andere Regionen der Bundesrepublik und bekommen nun auch dort ihre Kinder. In weiten Teilen Sachsens dagegen ist die Bevölkerung, wie ein unschöner Fachbegriff lautet, »überaltert«. Die jungen Leute, die noch da sind, pendeln oft über große Entfernungen zur Arbeit – und haben entsprechend weniger Zeit und Energie, sich im eigenen Dorf zu engagieren.
Auf den demografischen Wandel reagierte die Landespolitik mit Entscheidungen, die sich seither teils als fatal für Dörfer und Kleinstädte erwiesen. Über 1000 Schulen wurden in Sachsen nach 1990 geschlossen, was Orte verwaisen ließ. Hunderte Kilometer Bahnstrecken wurden stillgelegt. Viele Dörfer sind ohne Auto kaum erreichbar, wenn kein Schulbus fährt. Ökonomisches Kalkül etwa von Handelsunternehmen kommt dazu. So gibt es im Freistaat überdurchschnittlich viele Discounter. Weil Menschen ihre Einkäufe dort erledigen, mussten viele Dorfläden aufgeben. Schon 2008 fehlte in 74 Gemeinden in Sachsen ein Lebensmittelgeschäft, das in vertretbarer Zeit zu Fuß erreichbar ist.
Die Nahversorgung ist nur ein Beispiel dafür, dass in der öffentlichen Infrastruktur und im sozialen Leben die Lücken immer größer werden. Wenn Landärzte ihre Praxen aufgeben, finden sie oft keine Nachfolger. Einen Haut- oder Kinderarzt zu finden, gleicht in vielen Regionen Sachsens der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Die evangelische Kirche sucht händeringend, aber oft vergebens nach Pfarrer und Kantoren, die Justiz findet für Amtsgerichte kein Personal: »In der Oberlausitz werden die Richter knapp«, titelte im Frühjahr eine Regionalzeitung. Vereinen fehlt es an Nachwuchs, in Chören liegt der Altersdurchschnitt oft bei über 70. Und aus der Umgebung von Görlitz wurde kürzlich gemeldet: »Den Kitas auf den Dörfern gehen die Kinder aus.« Es ist eine Entwicklung, die bei Betroffenen teils zu Resignation und Wut führt. Viele Menschen in ländlichen Regionen fühlen sich abgehängt und vergessen. Manche tragen ihre Enttäuschung und Verbitterung über vermeintlich unzureichendes Engagement der Politik in die Wahlkabinen. Mancherorts wählt schon beinahe jeder Zweite die AfD.
Annegret Knieß wirkt nicht verbittert, ganz im Gegenteil. Gut gelaunt und sprudelnd vor Ideen erzählt sie, wie sie dem Dorfleben in Rosenhain wieder auf die Sprünge helfen will: mit einem kleinen Laden. Dort soll es Konfitüren und Gelees geben, die sie aus den Früchten ihres großen Gartens selbst herstellt, aber auch andere Produkte aus der Region. Vor allem aber soll das kleine Geschäft einen Treffpunkt bieten, an dem Menschen aus dem Ort »sich austauschen und schnattern können«, sagt sie: »Das ist für einen verschlafenen Ort wie unseren das Wichtigste.«
Der Dorfladen in Rosenhain könnte Teil eines größeren Projektes werden, das Knieß gemeinsam mit vier weiteren Mitstreiterinnen entwickeln möchte. Es trägt den Namen »lokalka« und will, wie es im Untertitel heißt, »mehr von hier« bieten. Im Kern, sagt Mitbegründerin Dagmar Ickert, geht es darum, Dorfbewohner mit Erzeugnissen regionaler landwirtschaftlicher Produzenten zu versorgen, das Ganze möglichst umweltschonend zu gestalten und dadurch auch den Zusammenhalt in den Orten zu stärken. »Mehr lokale Grundversorgung, mehr ressourcenschonendes Grundverständnis, mehr Gemeinschaft und Integration«, haben die fünf Frauen auf ihrer Internetseite formuliert.
»Mehr lokale Grundversorgung, mehr ressourcenschonendes Grundverständnis, mehr Gemeinschaft und Integration.«
Ziele des Projekts »lokalka«
An einem kühlen Nachmittag sitzen sie bei Kaffee und Kuchen im Aufenthaltsraum der Gärtnerei von Familie Jung, in deren Gewächshäusern Gemüse und Salat in großer Vielfalt gedeihen. Sie liegt in Hilbersdorf, einem Ortsteil der weitläufigen Gemeinde Vierkirchen. Anders als Rosenhain verfügt er über ein reiches geselliges Leben. Es gibt Theater- und Sportverein, ein gut besuchtes Sommerkino und einen Dorfclub, der jedes Jahr zum gemeinsamen Apfelsaftpressen in den ehemaligen Bahnhof einlädt. »Wir sind eigentlich ein Ausnahmedorf«, sagt Claudia Wolf.
Was es allerdings nicht gibt, ist eine funktionierende Nahversorgung. Zur Gärtnerei gehört zwar ein kleiner Laden, der freitags und samstags für ein paar Stunden geöffnet hat und Gemüse und Obst anbietet. Andere Geschäfte aber bestehen im Ort nicht mehr. Der Konsum schloss in den 1990er Jahren. Manchmal hält der Verkaufswagen einer Fleischerei. Ansonsten muss, wer einkaufen will, weite Wege zurücklegen. Ein Landgeschäft im benachbarten Melaune sei mit dem Fahrrad zu erreichen gewesen, erinnern sich die Frauen; es hat aber Corona und die Eröffnung eines Edeka-Marktes im weiter entfernten Weißenberg nicht überlebt. Wer mobil ist, bringt seine Einkäufe von weither mit. »Wer freilich auf der Strecke bleibt«, sagt Wolf, »sind die Älteren.«
Das Projekt »lokalka« will in Zukunft versuchen, Nahversorgung, Umweltbewusstsein und soziales Miteinander zu verbinden. Regionale Produzenten sollen gestärkt werden: die kleine Käserei, der regionale Gemüsehof, Marmeladenküche und Imker, Fleischerei oder Bäcker, die es in der näheren und weiteren Umgebung noch gibt. Zugleich soll nicht jeder Hilbersdorfer einzeln dort einkaufen, weil jede Autofahrt klimaschädliche Emissionen verursacht. Die Idee ist: Man erledigt Einkäufe, wenn die Läden ohnehin am Weg liegen, und bringt anderen Interessentinnen etwas mit. Im Kern handelt es sich also um eine Art Mitfahrgelegenheit für Kartoffeln, Konfitüre, Knacker und Käse.
Im kleinen Maßstab klappt das schon ganz gut, sagt Dagmar Ickert. Rund 20 Menschen beteiligen sich, die Absprachen erfolgen per Telefon. »lokalka« aber will mehr. Es soll eine Plattform im Internet entstehen, auf der Produzenten aktuelle Angebote einstellen, Kundinnen ihre Wünsche anmelden und Menschen sich bereiterklären können, beide zueinander zu bringen. Verteilt werden könnten die Waren in einer Art Netzwerk über Ausgabestellen wie den künftigen Laden von Annegret Knieß in Rosenhain. So entstünden »Orte des sozialen Austauschs«, sagt die 18-jährige Annemarie Ickert. Zudem würde der Umwelt geholfen, wenn auf unnötige Fahrten und vielleicht auch auf Verpackungen aus Plastik verzichtet wird. Um ein kommerzielles Angebot solle es sich nicht handeln, betonen die Initiatorinnen: »Wir verdienen kein Geld, dafür aber Dankbarkeit.«
Die Idee stößt auf viel Interesse – auch überregional. Beim Wettbewerb »machen!23«, mit dem die Deutsche Stiftung Engagement und Ehrenamt »inspirierende Ideen« in Ostdeutschland kürte, gehörte das Projekt ebenso zu den Ausgezeichneten wie 2022 beim »eku«-Zukunftspreis des sächsischen Staatsministeriums für Energie, Umwelt und Landwirtschaft. Er ehrt Ideen »zu einer ökologisch nachhaltigen Entwicklung in Sachsen und zum Schutz von Klima, Ressourcen, Natur und Umwelt«.
Die Preisgelder helfen jetzt auf dem Weg, die Idee praktisch umzusetzen – der sich als durchaus steinig erweist. Ein IT-Startup soll für die Initiative eine Online-Plattform entwickeln, auf der sich »die Dinge von allein organisieren«, wie Dagmar Ickert formuliert: »Es soll nicht immer jemand von uns am Rechner sitzen müssen.« Das Programm soll zunächst für einen Ort funktionieren, in Zukunft aber auf andere Dörfer zu erweitern sein. Keine triviale Aufgabe, räumen die Beteiligten ein, die zuvor auch noch einen Verein gründen wollen, um das Projekt auf rechtlich sichere Basis zu stellen. Die Satzung liegt gerade zur Prüfung beim Finanzamt. Die Wiederbelebung des Dorflebens: Sie verlangt von den engagierten Frauen also sehr viel Zeit, Kraft und Energie. Zumindest an den beiden letzteren Eigenschaften mangelt es ihnen auf keinen Fall.
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