Wetterwarnung

Alex Demirović fragt nach dem Sinn eines Wirtschaftswachstums, das zerstört

Verheerende Unwetter: Diese Woche in Süddeutschland und in der Schweiz.
Verheerende Unwetter: Diese Woche in Süddeutschland und in der Schweiz.

Wer hat sie nicht auf dem Smartphone gehabt: die vielen Warnungen vor den nächsten Unwettern, den Gewitterzellen, die Starkregen mit sich bringen, den Stürmen, die Bäume umreißen und Straßen und Bahnstrecken blockieren – ständig neue »Jahrhundertereignisse« in diesem noch jungen Jahrhundert? Dabei stehen wir erst am relativen Beginn der Erderhitzung.

Eine Studie der Universität Lausanne kommt zum Ergebnis, dass Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat und von Platz 15 im Jahr 2022 auf Platz 24 im Jahr 2024 zurückgefallen ist. Damit liegt es hinter Schweiz, Singapur, Norwegen oder Katar. Auch der ARD-Tagesschau war das eine Meldung wert. Wettbewerbsfähigkeit ist kein menschenfreundliches Konstrukt. Dazu gehören je nach Index Arbeitskräftepotenzial, wenige Streiktage, niedrige Löhne, niedrige Steuern, Subventionen bei der Ansiedlung von Unternehmen, niedrige Zölle, technische Innovationen, Anbindungen an den internationalen Flugverkehr, Shopping-Möglichkeiten. Im vorliegenden Fall schneidet Deutschland schlecht ab, weil BIP-Wachstum und Direktinvestitionen in Deutschland niedrig ausfallen, also ausländische Kapitalbesitzer wegen Inflation und hoher Steuern nicht so gern kommen. Zum negativen Bild tragen auch die Verhaltensweisen und Werte der Deutschen, die Infrastrukturen und die schulische und berufliche Ausbildung bei. Den Medien ist es wert, darauf hinzuweisen, dass die Schweiz pro Kopf der Bevölkerung viermal mehr als Deutschland in die Eisenbahn investiert.

Alex Demirović

Alex Demirović stammt aus einer jugoslawisch-deutschen Familie; der Vater wurde von den Nazis als Zwangsarbeiter verschleppt. Wegen eines politisch motivierten Vetos des hessischen Wissenschaftsministeriums durfte Demirović in Frankfurt nicht Professor werden. Seitdem bewegt er sich an der Schnittstelle von Theorie und Politik. Jeden vierten Montag im Monat streitet er im »nd« um die Wirklichkeit.

Die Schwäche der deutschen Wirtschaft ist keine dramatische Botschaft. Eigentlich weist sie sogar in die richtige Richtung. Es gibt entwicklungspolitische und ökologische Gründe dafür, dass die kapitalistischen Zentren endlich wirtschaftspolitisch negative Wachstumsraten anzielen sollten. Aber ein Verlust der Wettbewerbsfähigkeit widerspricht dem kapitalistischen Interesse. Sie muss die deutsche Bundesregierung wurmen, denn ihre Ziele sind Wachstum, hohe Wertschöpfung vor allem in der Automobilindustrie, steigende Konsumausgaben, Arbeitsplätze. Wächst die Wirtschaft nicht, dann heißt dies zumeist nur, dass die Gesellschaft im Verhältnis zum vergangenen Jahr nicht reicher geworden ist. Wir benötigen aber auch Wachstum: Eine stärkere Gewerkschaftsorganisation und mehr Streiks sind dringend geboten, die Bildung zu verbessern sollte angesichts der Erfolge rechter Parteien eine zentrale Aufgabe sein, mehr Eisenbahninfrastruktur und Ausbau der erneuerbaren Energieerzeugung.

Auf perverse Weise wird es Wachstum geben. Die Fluten der vergangenen Wochen in Bayern und Baden-Württemberg, zum Jahreswechsel in Norddeutschland haben Schäden von mehreren Milliarden Euro angerichtet. Ja, es sind Schäden. Denn viele Menschen haben Möbel oder Kleidung verloren, Lebensqualität, Lebenszeit. Nun müssen die Wohnungen oder Häuser renoviert, Straßen saniert, die Kanalisation repariert, die Flüsse neu reguliert werden. Das wird viel Zeit und Geld erfordern, das wiederum für andere Ziele fehlt – und sei es einfach nur das Ziel, müßig zu sein. Für die Baufirmen, die Handwerker, für die Möbel- und Textilindustrie ist das ein regelrechter Wachstumsschub. Die Verluste der einen sind die Gewinne der anderen. Für die Kennzahlen des Bruttosozialprodukts ist das gleichgültig. So behäbig ist das Bürgertum, es interessiert sich gar nicht wirklich dafür, was qualitativ passiert. Es geht um das, was »hinten herauskommt«.

Das Bürgertum streitet sich über einen Aspekt, der für unser Alltagsleben wichtig ist, aber auch der Wettbewerbsfähigkeit abträglich sein kann, nämlich die Verkehrsinfrastruktur. Aufgrund der politischen Borniertheit des Finanzministers, der gegen jede wirtschaftliche Rationalität an der Schuldenbremse festhält, soll auch am Ausbau der Autobahnen gespart werden. Dabei geht es um die Sicherheit der Brücken, um Streckensanierung. Da wäre es durchaus gefährlich, an der falschen Stelle zu sparen. Viel wichtiger wäre eine Umlenkung hin zum Ausbau des Bahnnetzes. Aber der Streit geht um den Ausbau der Autobahn A5 nördlich von Frankfurt auf zehn Spuren. Das wäre ein Novum und, so ist zu befürchten, beispielgebend für zukünftige Planungen. Selbst die Grünen, die bis vor Kurzem die Erweiterungen von Autobahnen noch durchgeführt haben und dies sicherlich auch zukünftig tun werden, weil kein Opportunismus sie je geschreckt hat, finden das Projekt irrsinnig; Sozialdemokraten hingegen, die es einmal irrsinnig fanden, wollen es nun umsetzen. Dieser Teilabschnitt der A5 ist jedenfalls eine der am meisten befahrenen Strecken der Republik und durch ein Verkehrsleitsystem hoch technologisiert. Dass nun weiter ausgebaut werden muss, verweist auf ein Versagen. Denn mit der Einführung des Verkehrsleitsystems sollten vor längerer Zeit ein gleichmäßiger Strom des Verkehrsaufkommens gewährleistet, Staus vermieden und weiterer Ausbau der Autobahn überflüssig gemacht werden.

Verkehrsminister Wissing verhält sich vermeintlich wachstumsfeindlich. Die Verkehrsinfrastruktur müsse bedarfsgerecht ausgebaut werden, so dass sie den Ansprüchen der Zukunft entspricht. Aber seinem Finanzminister kommt er entgegen und will bei den Mitteln für den Autobahnausbau etwa 1,3 Mrd. Euro einsparen, in den Folgejahren weitere zwei Milliarden. Da kommt die erwähnte Studie zur Wettbewerbsfähigkeit gerade zur richtigen Zeit, denn sie trägt wesentlich mit zur Definition der Zukunft bei. Der Vize der SPD-Fraktion im Bundestag schimpft. Solche Kürzungen werde man nicht mittragen, denn Straßen seien Lebensadern »unserer Wirtschaft und Gesellschaft«.

Die AfD setzt dem Ganzen die autoritär-populistische Krone auf. Die Bahn ist für sie Sozialismus; im Namen der Freiheit plädiert sie für freie Fahrt für freie Bürger auf den Straßen, also mehr Individualverkehr, mehr Stau, mehr Lärm, mehr Emissionen. Denn die Bahn sei ein kollektivistisches Verkehrsmittel, das die individuelle Freiheit einschränke. Ministerpräsident Söder sekundiert mit Leugnung der Folgen dieser falsch verstandenen Freiheit: Solche Regenmassen, solche Überschwemmungen konnte niemand erwarten. Erneut ein schwarzer Schwan.

Der Irrsinn geht also weiter. Viele Politiker verblöden sich mit Realitätsverleugnung und versuchen es mit uns, anstatt endlich den kollektiven Willen zu organisieren, der den Herausforderungen gewachsen wäre: eine Energiewende, eine Mobilitätswende, eine Konsumwende, eine Besiedlungswende. Denn kein schwarzer Schwan sind all die weiteren meteorologischen Ereignisse, die uns seit langem schon in den Wetternachrichten immer wieder angekündigt werden.

Wer CDU/CSU, AfD, SPD, Grüne, FDP, die Freien Wähler oder nun auch noch BSW wählt, wird demnächst erneut erleben, wie Keller absaufen, Menschen Sandsäcke füllen, Helfer ihr Leben verlieren. Klar, die Leute wollen ihren Wohlstand nicht aufgeben oder ihn überhaupt erst einmal erlangen. Leider werden die Maßstäbe des Wohlstands und seine Folgen zu wenig folgenreich infrage gestellt. Aber wäre das nicht ein neuer Wohlstand: nicht mehr wettbewerbsfähig sein müssen, nicht reicher sein müssen als gestern und vorgestern, die Regionen des globalen Südens nicht zerstören für unseren vermeintlichen Wohlstand – und dafür keine Fluten im Wohnzimmer haben, nicht mehr im Stau stehen, pünktlich zur Arbeit und an Reiseziele gelangen? Wie viel Reichtum an Lebenszeit, an Zufriedenheit, an Glück könnten wir gewinnen!

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