Das Schweigen über den Brexit

In Großbritanniens Wahlkampf spielt der EU-Austritt trotz der wirtschaftlichen Verwerfungen keine Rolle

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.
Keir Starmer (Mitte) war mal für den Verbleib in der EU, im Wahlkampf in Großbritannien will er davon nichts mehr wissen.
Keir Starmer (Mitte) war mal für den Verbleib in der EU, im Wahlkampf in Großbritannien will er davon nichts mehr wissen.

Bei der Parlamentswahl im Dezember 2019 war der EU-Austritt so zentral, dass die Medien von der »Brexit-Wahl« sprachen. Umso verwunderlicher, dass man dieser Tage kaum etwas davon hört. Im aktuellen Wahlkampf spielt der EU-Austritt praktisch keine Rolle, in manchen TV-Debatten ist er überhaupt nicht zur Sprache gekommen. Man spricht von einer »Brexit-Omertà«.

Die Tories haben gute Gründe, sich an dieses Schweigegebot zu halten. Denn die meisten Briten sind sich mittlerweile einig, dass der Brexit ein Reinfall war. Der versprochene wirtschaftliche Aufschwung ist ausgeblieben, Unternehmen klagen über lähmende Handelshemmnisse, und das Ende der Personenfreizügigkeit hatte zur Folge, dass in den Restaurants und Pubs das Personal fehlt. Die Tories, die mal so große Brexit-Fans waren, wollen die Wähler lieber nicht daran erinnern, dass sie die Hauptverantwortung für diesen Misserfolg tragen.

Labour erteilt Wiedereintritt in die EU eine Absage

Keir Starmers Labour-Partei hingegen hält sich aus einem anderen Grund zurück: Sie will sich nicht dem Vorwurf aussetzen, den Brexit umkehren zu wollen. Denn obwohl der Brexit-Kater mit voller Wucht eingeschlagen hat, haben die meisten Briten laut Umfragen keine Lust, den Streit wieder von vorne zu beginnen. Dazu kommt, dass Labour am 4. Juli gerade in jenen Wahlkreisen Stimmen gewinnen will, die 2016 für den EU-Austritt gestimmt haben. »Es herrscht eine Nervosität, weil Starmer als ehemaliger Remain-Befürworter angreifbar ist«, sagte Anand Menon, Vorsitzender des Thinktanks UK in a Changing Europe, gegenüber dem »Guardian«.

Am vergangenen Sonntag – dem 8. Jahrestag des Brexit-Votums – erinnerte Rishi Sunak die Wähler daran, dass Starmer einst ein glühender Anti-Brexit-Aktivist war und ein zweites Referendum befürwortete. »Starmer glaubt nicht an Großbritannien. Er will den Brexit rückgängig machen«, behauptete Sunak.

Starmer bestreitet dies vehement. »Wir werden der EU nicht wieder beitreten«, sagte er am Wochenende. Auch werde Großbritannien außerhalb des Binnenmarkts und der Zollunion bleiben, eine Rückkehr der Personenfreizügigkeit sei ausgeschlossen. Eine erneute EU-Debatte würde nur zu Unsicherheit führen, »und ich glaube nicht, dass dies uns helfen wird, unsere Wirtschaft wiederaufzubauen«, sagte der Labour-Chef.

Aber wenn Starmer wie erwartet Ende nächster Woche als Premierminister in die Downing Street 10 einzieht, wird die Frage, wie nah Großbritannien an Europa sein sollte, bald an Bedeutung gewinnen. Es geht nicht zuletzt um wirtschaftliche Erwägungen. Viele Ökonomen warnen, dass das Wachstum, das Starmer dem Land verspricht, sehr schwierig zu erreichen sei, wenn die Handelshemmnisse zu den europäischen Partnern nicht abgebaut werden. »Je näher wir dem Status [als volles EU-Mitglied] sind, desto größer wird das Wachstum sein«, sagte Professor Stephen Millard vom National Institute of Economic and Social Research gegenüber der Wochenzeitung »The Observer«.

Brüssel hofft auf einen Neustart

Labour ist sich der Herausforderung bewusst. In ihrem Wahlprogramm spricht sie davon, die »Handelsbeziehungen mit der EU zu verbessern« und »unnötige Hemmnisse« abzubauen. Insbesondere soll etwa der Handel mit Tierprodukten vereinfacht werden, und Künstler sollen bei Auslandsreisen mit weniger Grenzbürokratie belastet werden.

Allerdings kommen aus Brüssel Warnungen, dass man einer Labour-Regierung keine Rosinenpickerei gestatten werde – das heißt, London werde nicht auf einzelne Teile des Binnenmarkts zugreifen können, ohne Gegenleistungen zu erbringen.

Dennoch hofft man in der EU, dass ein Regierungswechsel einen Neustart ermöglichen werde. Mit einer neuen Regierung in London gebe es »Raum, die Beziehung wiederaufzubauen«, sagte Terry Reintke, Europaabgeordnete für die Grünen, gegenüber der Zeitung »i«, eine Schwesterzeitung des »Independent«. Besonders in der Sicherheitszusammenarbeit dürften beide Seiten an einer verstärkten Kooperation interessiert sein.

Der erste Test, ob sich die britisch-europäischen Beziehungen verbessern werden, kommt schon wenige Wochen nach dem wahrscheinlichen Regierungswechsel in London: Am 18. Juli wird die britische Regierung im Blenheim Palace die Regierungschefs der Europäischen Politischen Gemeinschaft empfangen, jener 2022 gegründeten Organisation, die unter anderem die Beziehungen zwischen Europa und Großbritannien in der Nach-Brexit-Zeit stärken soll.

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