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Illusion eines kranken Landes

Euphorie, Begeisterung oder Enthusiasmus? Die deutsche Fußballnationalmannschaft brennt Raketen ab

  • Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 5 Min.
Superstimmung überall – von dunklen Seelen keine Spur
Superstimmung überall – von dunklen Seelen keine Spur

»DFB-Elf zündet mit Ungarn-Sieg Euphorie-Rakete«, formulierte die Text-Abteilung des ZDF nach dem zweiten Gruppenspiel der BRD-Auswahl. Sie demonstrierte im Folgenden trefflich, wie man einen derzeit inflationär verwendeten Begriff mühelos in ein schiefes Sprachbild integrieren kann, als sie frohlockte, dass »die Welle der Begeisterung« noch größer werden dürfte. Wenig später war es in der Tat so weit: »Füllkrug rettet Deutschland den Gruppensieg – und die EM-Euphorie«, seufzte das Redaktionsnetzwerk Deutschland nach dem letzten Vorrundenspiel.

Fassungslos fragte die »Südwestpresse« aber schon am Tag darauf: »Wo bleibt die deutsche EM-Euphorie? Die Mehrheit der Deutschen rechnet weiter nicht mit dem Titelgewinn der DFB-Elf bei der Fußball-EM«. Eine Umfrage habe das schlechthin Erschütternde an den Tag gebracht: »Viele deutsche Fußball-Fans glauben trotz der guten Auftritte der Nationalmannschaft in der EM-Gruppenphase noch nicht an den vierten Titel.« Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, das hatte ja schon der beherzte Füllkrug bewiesen. »Die Tendenz ist aber steigend«, liest man dementsprechend in der »Südwestpresse«, also gebe es vorerst noch keinen Grund zur Verzweiflung.

Aber ach, es können die Bravsten nicht im friedlichen Euphoriezustand leben, wenn es dem bösen Medien-Nachbarn nicht gefällt. So musste die »Frankfurter Rundschau« am 25. Juni vermelden, dass ein Familienmitglied des deutschen Mittelfeldregisseurs nach dem Ausgleichstor im letzten Gruppenspiel gegen die Kicker aus der Schweiz harsche »Kritik an der ARD-Übertragung« geäußert habe. »Felix Kroos schrieb auf seinem X-Account: ›ARD-Leute wollen nach dem Spiel schön Euphorie bremsen‹, und fügte hinzu: ›Würde ich jetzt nicht so gerne zulassen wollen. Mir macht das alles Spaß.‹ Trotz des enttäuschenden Spiels am Sonntag ist Felix Kroos dagegen, dass die gute Stimmung, die während der EM im ganzen Land herrscht, gedämpft wird.«

Ja, die Welle der begeisternden Euphorie-Raketen darf auf gar keinen Fall gedämpft werden, darin sind sich hierzulande wohl die meisten einig. Auch wenn es gar nicht so einfach ist, sich vorzustellen, wie man Raketenwellen dämpft. Die DFB-Chefetage durfte sich durch den Verlauf der öffentlichen Fieberkurve jedenfalls bestätigt sehen. »Rudi Völler reibt sich ob der neuen Euphorie rund um die deutsche Nationalmannschaft verwundert die Augen«, hatte die »Hamburger Morgenpost« am 23. Juni gemeldet. »›Ich bin ja schon 1988 bei der bislang letzten Heim-EM dabei gewesen. Da war ich 28‹, sagte der DFB-Sportdirektor der «Welt am Sonntag» und betonte: ›Auch da war die Begeisterung im Land großartig. Aber das, was wir jetzt erleben, ist damit nicht zu vergleichen.‹«

Nein, das geht natürlich gar nicht – das wäre ja, als würde man Äpfel mit Birnen vergleichen. Was logisch allerdings kein Problem darstellt, denn, und das ist entscheidend, es gibt ein Tertium Comparationis, handelt es sich doch beide Male um Obst … Und sind »Begeisterung« und »Euphorie« eigentlich bedeutungsgleich?

Wie dem auch sei: Völlers Verwunderung sollte sich in Grenzen halten. Denn der Deutsche Fußballbund hatte die Euphorie-Sprachregelung ja zeitig vor Turnierbeginn ausgegeben. Aus allen Rohren wurde herausposaunt, dass »wir« bzw. »das Land« jetzt Euphorie »brauchen« – wahlweise »eine« oder »die Euphorie«. Wer weiß, vielleicht wunderte sich Völler ja einfach darüber, wie reibungslos solche Kampagnen funktionieren. Womöglich ist beim Wording eine Verwechslung mit Enthusiasmus unterlaufen, wer weiß. So oder so, mittlerweile ist die euphorische Begriffskonfusion auch ins Verlautbarungsrepertoire des Bundespräsidenten aufgenommen worden.

Konflikte und Widersprüche werden immer manifester, die Autoritären sind auf dem Vormarsch, die Regierungsparteien befeuern sadistische Fantasien im Umgang mit Geflüchteten – aber im Land herrscht Superstimmung. Das ist doch immerhin etwas, oder nicht? Kommt ganz drauf an …

Wider Willen transportiert die ideologische Parole von der Euphorie ein wahres Moment. Der ehrwürdige Begriff »Euphorie« ist vieldeutig. Darunter verstand man, so ist im zuverlässigen »Historischen Wörterbuch der Philosophie« zu lesen, »in der medizinischen Literatur der Antike« unter anderem »die Illusion eines Kranken, es gehe ihm in Wirklichkeit ausgezeichnet«. Aha.

Nun gut, das war damals. In der Antike gab es ja auch noch keine evidenzbasierte Wissenschaft. Wie verhielt es sich denn im 20. Jahrhundert damit? »In der Tradition des 19. Jahrhunderts nennen Karl Jaspers und viele andere«, so lesen wir weiter, »›Euphorie‹ jede abnorme Heiterkeit, ob sie nun als angeborene Temperamentseigentümlichkeit, in einer manischen Phase, bei körperlichen Erkrankungen oder bei Vergiftungen auftritt.« Und für heute konstatiert das »Historische Wörterbuch der Philosophie« trocken: »Unter Euphorie wird gegenwärtig allgemein eine abnorme oder krankhafte Heiterkeit verstanden.« Hier zeigt sich wieder einmal, wie lebensnah die philosophisch-wissenschaftliche Begrifflichkeit sein kann.

Wenn die BRD-Auswahl am Samstagabend gegen die dänischen Kicker aus dem Turnier ausscheidet, könnten peinliche Erinnerungen an die vermeintliche Blamage von 1992 wach werden. Damals hatte Kanzler Kohl vor dem Finale gespottet: Dänemark will nicht in die Europäische Union eintreten, aber Fußball-Europameister werden? Das wäre ja noch schöner. Wurde es dann ja auch. Und wenn es für die Deutschen heute wieder mal in die Hose geht, könnte die manische Phase der medial geschürten Fußballvergiftung jäh zu Ende gehen.

Es ist zu befürchten, dass sie dann wieder in jene verbreitete (nicht angeborene, sondern sozialisierte) »Temperamentseigentümlichkeit« umschlägt, die die Stimmung all jener in diesem Land so gedämpft macht, die das vielleicht Unmögliche wollen: ein Leben frei von Ressentiment, Nationalismus und Konkurrenz. Und damit nicht zuletzt auch die Stimmung derer, die (wie der Autor dieser Zeilen) das Ballspiel lieben und nicht von dem Gedanken lassen mögen, dass man es womöglich eines besseren Tages ohne den ideologischen Apparat des nationalen Wettbewerbsstaates spielen und anschauen könnte.

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