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Griechenland: »Arbeitsbedingungen verschlechtern sich dramatisch«
Arbeitsrechtler Dionysis Temponeras über die Einführung der 6-Tage-Woche in Griechenland
Am 1. Juli beginnt in Griechenland die 6-Tage-Arbeitswoche. Wen trifft die neue Regelung?
Sie betrifft in erster Linie Beschäftigte in Unternehmen, die kontinuierlich arbeiten. Also solche Unternehmen, die an allen Tagen der Woche im 24-Stunden-Betrieb mit einem Wechselschichtsystem arbeiten und für ihre Beschäftigten ein 5-Tage-Arbeitssystem anwenden. Und sie betrifft auch Unternehmen, die nicht ständig in Betrieb sind, weil sie fünf oder sechs Tage in der Woche arbeiten, ebenfalls auf 24-Stunden-Basis und in einem Schichtsystem. Bei erhöhtem Arbeitsaufkommen kann ihnen die Möglichkeit der 6-Tage-Woche eingeräumt werden, wobei sie verpflichtet sind, dies zu melden. Es handelt sich hauptsächlich um private Betriebe, aber auch um Unternehmen des öffentlichen Sektors im weiteren Sinne, etwa öffentliche Versorgungsbetriebe oder Unternehmen, an denen der Staat beteiligt ist.
Was bezweckt die Regierung mit dem Gesetz?
Die Forderung nach einer 6-Tage-Woche ist nicht neu und besteht bereits seit der Troika-Ära. Im Jahr 2012 richtete die Troika einen entsprechenden Antrag an die damalige Regierung, der jedoch nicht angenommen wurde. Das neue Gesetz von 2023 – so sagt es zumindest das Arbeitsministerium –, soll es Unternehmen, die nicht so leicht Arbeitskräfte in spezialisierten Bereichen finden können, ermöglichen, ihre Arbeitszeiten zu flexibilisieren. So sollen sie bei hohem Arbeitsaufkommen mit einer Belegschaft auf Abruf reagieren können. Zuvor war bereits im Jahr 2021 der 8-Stunden-Tag abgeschafft worden. Auch wurde die Unabhängigkeit der Arbeitsaufsichtsbehörde eingeschränkt und Entlassungen wurden flexibilisiert. Wir haben also mehrere Gesetze, die das Modell eines Arbeitnehmers stärken, der viel länger arbeitet und immer weniger bezahlt wird. Gerade in einem Land wie Griechenland, in dem die Arbeitnehmer nach Eurostat-Daten die längsten Wochenarbeitszeiten in Europa haben, wird davon ausgegangen, dass sich die Arbeitsbedingungen dramatisch verschlechtern. Dabei gibt es schon jetzt ein enormes Problem mit der Verteuerung und der Einkommensarmut.
Dionysis Temponeras (42) ist Anwalt für Arbeitsrecht und Mitglied der griechischen Linkspartei Syriza. Sie wurde im Zuge der Euro-Krise gegründet und hat nach einer Hochphase derzeit noch 36 Sitze im griechischen Parlament.
Wie hat die Arbeitswelt auf das Gesetz reagiert?
Da es sich um eine begrenzte Umsetzung handelt, die ab nächster Woche für Tausende Arbeitnehmer gilt, haben wir bisher nicht gesehen, wie sie funktioniert. Das Wichtigste ist, dass diese Verordnung in Verbindung mit der Sonntagsarbeit in vielen Wirtschaftszweigen die Grundlage für eine 7-Tage-Woche schafft. Obwohl die Bedingungen, mit denen der Arbeitnehmer in der Praxis konfrontiert ist, oft viel schlimmer sind, vor allem wegen der fehlenden Kontrolle der Arbeitgeberwillkür auf dem Arbeitsmarkt, nämlich unbezahlten Überstunden oder unbezahlten Löhnen. Die Gesetzgebung folgt diesen Zuständen. Leider hat diese Regierung nicht vor, einen schützenden Rahmen zu schaffen.
Wie reagieren die Gewerkschaften?
Bei der Verabschiedung des Gesetzes kam es zu Streiks seitens der großen Gewerkschaften. Seitdem ist klar, dass der Rest der Gesetzgebung, die seit etwa einem Jahrzehnt in Kraft ist, die freie Ausübung der Gewerkschaftsrechte, das Streikrecht und das Recht auf Tarifverhandlungen erschwert. Das, was wir als Gewerkschaftsbewegung bezeichnen, ist also in diesem Land völlig geschwächt worden. Man braucht sich nur vorzustellen, dass der Prozentsatz der Arbeitnehmer, die unter Tarifverträge fallen, in Europa über 55 Prozent beträgt, in Griechenland sind es 25 Prozent. Und der Rahmen, der Streiks erlaubt, ist so eng, dass 95 Prozent der Streiks, die vor Gericht kommen, für illegal erklärt werden. Im Grunde haben wir ein großes Problem mit der Ausübung des Grundrechts der Gewerkschaftsfreiheit.
Was ist die Politik der Regierungspartei Nea Dimokratia?
Die Regierung geht in die Richtung, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auf der Grundlage einer Abwertung der Arbeit zu stärken. Es ist international bewiesen, dass das nicht funktioniert. Wäre das der Fall, würden Bulgarien oder Bangladesch zu den besten Volkswirtschaften gehören. In einer Zeit, in der das übrige Europa nach den Lehren aus der Pandemie und der Energiekrise zu immer mehr staatlichen Eingriffen übergeht, gehen wir hier auf der Grundlage des Neoliberalismus in die entgegengesetzte Richtung. Das übrige Europa diskutiert über die 4-Tage-Arbeit, den 35-Stunden-Tag, und hier beginnen wir die 6-Tage-Woche. Das macht uns zu einer europäischen Ausnahme.
Wie wirkt sich das auf die Arbeitsbedingungen aus?
Ich denke, das große Merkmal unserer Zeit ist die Flexibilität und die Prekarität. Das heißt, wir haben viele Arbeitnehmer mit Teilzeitverträgen, meist junge Leute. Wir haben schlecht bezahlte Arbeitnehmer, da wir sehr niedrige Löhne haben. Der Mindestlohn in absoluten Zahlen beträgt 830 Euro, aber weil seine Kaufkraft völlig entwertet ist, konkurrieren wir mit Bulgarien auf den letzten Plätzen in der EU. Wir haben einen Mangel an Kontrollen der Arbeitgeberwillkür. Die Arbeitsaufsichtsbehörde ist personell unterbesetzt und verfügt nicht über die erforderliche technische Infrastruktur. Und es fehlt an kollektiven Verträgen.
Und was tut die Linkspartei Syriza für die Arbeitnehmer?
Vor allem seit 2018, in Zeiten der Syriza-Regierung, gab es Initiativen zur Erhöhung des Mindestlohns und zur Wiedereinführung des Tarifvertragssystems. Offensichtlich haben die Wahlen 2019 jeden Schwung zunichtegemacht. Selbstverständlich steht eine Partei der Linken den Arbeitnehmern nahe. Lohnarbeit wird traditionell ausgebeutet, daher ist Regulierung notwendig. Unsere Vision lässt sich als ein Arbeitsmodell zusammenfassen, das auf Sicherheit, angemessener Bezahlung, Kontrollen und natürlich der Behandlung des Arbeiters als Produktionsfaktor nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in sozialer Hinsicht beruht.
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