EU-Außengrenzen: »Die Kinder bräuchten Geborgenheit«

Die Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk berichtet über das Leid der Minderjährigen, wenn sie in Flüchtlingslagern interniert werden

  • Interview: Melanie M. Klimmer
  • Lesedauer: 7 Min.
Viele Kinder und Jugendliche in den griechischen Flüchtlingslagern sind traumatisiert. Ihre Leiden werden dort nicht behandelt.
Viele Kinder und Jugendliche in den griechischen Flüchtlingslagern sind traumatisiert. Ihre Leiden werden dort nicht behandelt.

Frau Glatz Brubakk, Sie waren mit der Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) in den griechischen Flüchtlingslagern im humanitären Einsatz. Unter welchen Umständen müssen Kinder und Jugendliche dort leben?

Im alten Lager, dem sogenannten Moria 1 auf Lesbos, standen dicht aneinander in den Wohncontainern für unbegleitete Minderjährige dreistöckige Betten – ohne Privatleben, ohne einen Ort, an den man sich zurückziehen oder an dem man auch mal traurig sein kann, wenn man die Mutter vermisst. Da war niemand, der half, tröstete, wenn die Kinder nachts schreiend aus einem Alptraum aufwachten. Wie man da Kinder behandelte, war das Schlimmste, was ich bis dahin gesehen hatte. Man darf nicht vergessen: Die meisten Kinder und Jugendlichen, die in die Lager kommen, haben aufgrund von Krieg, Hunger und Gewalt in ihrem Heimatland bereits Traumata erlebt, weshalb sie auch geflohen sind. Viele erzählten mir, dass sie auf ihrer Flucht zudem sehr oft Gewalt von Schmuggler*innen, Schlepper*innen, von der Grenzpolizei und von der lokalen Bevölkerung erlebt hätten. Sie wurden Zeug*innen, wie die Eltern verprügelt, gefoltert oder vergewaltigt wurden oder bei der Überfahrt fast oder tatsächlich ertranken.

Wie ist die Situation der Kinder und Jugendlichen im Übergangslager Moria 2 seit dem Brand 2020?

Wir finden traumatisierte Kinder und Jugendliche vor, die Geborgenheit und eine Perspektive bräuchten, damit all diese Traumata wieder heilen können. Was wir ihnen in diesen Lagern stattdessen anbieten, verstärkt ihre Trauma-Symptome und ihr psychisches Leid noch: Wir sperren sie hinter Stacheldrahtzäune, mit bewaffneten Polizisten an den Toren, wodurch überhaupt kein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit entstehen kann. Lange Unsicherheitsperioden verstärken die Hoffnungslosigkeit zusätzlich, je an einen sicheren Ort zu kommen. Menschen können mit Unsicherheit schlecht umgehen: Wenn man nicht weiß, worauf man warten soll, kann man die eigenen Ressourcen nicht mobilisieren.

Interview

Katrin Glatz Brubakk, 54, ist deutsch-norwegische Kinderpsychologin. Das menschliche Leid, mit dem sie 2015 im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos zum ersten Mal konfrontiert wurde, beschäftigte sie so sehr, dass sie seither regelmäßig unter anderem für die Organisation Ärzte ohne Grenzen dorthin fährt – diesen Herbst zum 14. Mal. Ihre Wut verarbeitet sie konstruktiv durch konkretes Handeln und beim Schreiben. Im März veröffentlichte sie mit der Journalistin Guro Kulset Merakeras das Buch »Inside Moria – Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit«.

Wie kommen die Kinder und Jugendlichen mit solchen Lagersituationen zurecht?

Sie haben Alpträume. Sie fangen an zu bettnässen. Manche Kinder, die 2020 den Brand im ehemaligen Lager Moria erlebt haben, stehen nachts im Traum auf und rennen zum Wasser. Diese Kinder sind immer auf der Hut, können nicht entspannen und leben konstant unter Stress. Dieser erhöhte Stresspegel führt dazu, dass die so wichtige Gehirnentwicklung entweder langsamer vor sich geht oder sogar stoppt. Das betrifft vor allem die Entwicklung des präfrontalen Cortex, man kann ihn auch das »Denk-Gehirn« nennen. Er ist dafür zuständig, dass wir planen und unsere Gefühle regulieren können. Hier sind das Lernen und die Risikoeinschätzung verankert – alles essenzielle Fähigkeiten.

Gab es Situationen, die Sie in den Lagern auf Lesbos besonders schockiert haben?

Ich habe bei meinen Einsätzen mit MSF 2019 und 2021 auf Lesbos zwei Mädchen mit Resignationssyndrom gesehen. Solche Fälle bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen waren uns bis dahin nur von der australischen Pazifikinsel Nauru und etlichen Fällen in Schweden aus der Zeit der früheren Ostblockstaaten bekannt.

Laut einem Bericht von Ärzte ohne Grenzen von 2018 litten allein auf Nauru zehn Kinder im Offshore-Internierungslager unter dem Resignationssyndrom. Was ist genau darunter zu verstehen?

Wir sehen es öfter, dass sich Kinder und Jugendliche zurückziehen, nicht mehr spielen, sich nicht mehr engagieren. Das Resignationssyndrom ist eine extreme Variante davon. Wenn die Überbelastung zu groß wird, ist Rückzug oft der einzige noch verbliebene Überlebensmechanismus. Wenn man nicht mehr am Leben teilnimmt, ist das eine Form von Schutz, die weitere schlimme Erfahrungen fernhält. Typisch für diese Kinder ist, dass sie viele Traumata erlebt und in den Lagern lange in Unsicherheit ausgeharrt haben. Dann kommt ein auslösendes Erlebnis hinzu, das sie in diesen (resignativen) Zustand bringt.

Die Herausforderung für uns ist, dass wir nicht wissen, wie viele Kinder und Jugendliche tatsächlich betroffen sind. Eine offizielle Statistik gibt es nicht. Deshalb gibt es vermutlich mehr Kinder, die unter dieser Symptomatik leiden.

Was war bei den beiden Mädchen auf Lesbos vorausgegangen?

Das eine Mädchen hatte im Krieg miterlebt, wie der Bruder umgebracht und die Mutter schwer verletzt wurde. Die Familie des anderen Mädchens hatte im Bombenhagel nur knapp überlebt. Beide Kinder haben im Lager noch »funktioniert«. Aber dann wurde das eine Mädchen dort Zeugin einer Messerstecherei, bei der ein Jugendlicher von einem anderen Jugendlichen umgebracht wurde. Das andere Mädchen wurde beim Brand auf Moria stark retraumatisiert. Beide hörten nach diesen Erfahrungen auf Lesbos auf zu sprechen.

Wie äußerte sich das Resignationssyndrom noch?

Eines der Mädchen hat die Augen nicht mehr geöffnet. Wenn man es über den Arm streichelte, um in Kontakt zu kommen, den Namen sagte, reagierte es nicht. Man musste ihm Babynahrung geben, weil es nicht mehr kauen konnte, und es verlor an Gewicht. Mit sehr viel Mühe erreichten wir schließlich die Evakuierung nach Athen. Das andere Mädchen war acht oder neun Jahre alt und konnte nur mit Unterstützung gehen. Auch dieses Kind wurde mit Babybrei ernährt. Es trug Windeln, weil es nicht mehr sagen konnte, wenn es zur Toilette musste. Aber wir erhielten keine Erlaubnis, das Kind zu evakuieren. Mittlerweile lebt es mit Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland.

Ein Großteil der Geflüchteten in Griechenland wird anerkannt. Was aber bedeutet eine solche Vorgeschichte für die spätere Integration?

Der Entwicklungsschaden, der bei Kindern und Jugendlichen in diesen Lagern entsteht, ist nicht beendet, wenn sie das Lager mit einer Aufenthaltserlaubnis verlassen. Er wird sie ein Leben lang begleiten. In Albanien oder in Ruanda werden wir die gleichen Schäden bei Kindern und Jugendlichen vorfinden, wenn man ihnen dort ähnlich schlechte Angebote macht, wie derzeit in Griechenland. Auf lange Sicht werden sie, aufgrund ihrer Erfahrungen, mehr medizinische und psychologische Unterstützung brauchen, nur um den so verursachten Schaden wieder zu beheben.

Was wissen Sie vom neuen Lager auf Lesbos?

Das neue, geschlossene Lager ist ein sogenanntes Closed Controlled Access Center (CCAC), das noch nicht in Betrieb ist. Es liegt mitten im Wald, weit weg von der Stadt. Dort fahren keine Busse hin, sodass man, wenn nötig, nicht zur Apotheke oder zu einem Geschäft gelangt. Man kann nicht an den Strand, um Abstand vom Lagerleben zu gewinnen. Das Problem ist, dass die Lager in Griechenland für unabhängige Freiwillige und Journalist*innen immer unzugänglicher werden. In den neuen CCACs werden Nichtregierungsorganisationen, die dort arbeiten wollen, stark kontrolliert: Jede Person muss unterschreiben, dass nichts über das Lagerleben nach außen dringt. Wenn die Bedingungen nicht gut sind, Gesundheitspflege nur sehr begrenzt erfolgt, Gewalt von Wärtern ausgeht, dann darf darüber nicht nach außen berichtet werden. Und wenn niemand das dokumentieren kann, erfährt keiner davon und niemand kann Kritik üben.

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So gibt es keine zivilgesellschaftliche Kontrolle mehr.

Jede Änderung ist so klein, dass es keine großen Schlagzeilen gibt. Nur wenn man den Überblick hat, sieht man, wie das Seil immer straffer und straffer angezogen wird. Und trotzdem: In Griechenland gibt es noch die Kontrollen durch die EU. Wie wird das aber erst in Albanien oder Ruanda sein, wo es kein solches Kontrollsystem gibt?

Im Fall Ruanda würden wir von alledem wohl nichts mitbekommen.

Eben! Ein riesiges Problem! Auf dem Papier sieht alles sehr gut aus: Die Menschen sollen Gesundheitsversorgung erhalten, was auch für Moria und die griechischen Lager so einmal geplant war, nur dass Griechenland in der EU liegt. Würden wir Albanien oder Ruanda unser System abverlangen, würde das so sein, wie ich es auf Lesbos erlebt habe: Sie zeigen den Politiker*innen nur einen kleinen, aufgeräumten Teil des Lagers und stellen ein paar Geflüchtete vor, die zuvor noch instruiert worden sind und sagen: »Hier ist alles in Ordnung.« Zutritt haben nur wenige Ausgewählte. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir bei einem Ministerbesuch aus Österreich neugeborene Zwillinge, die gerade am Strand angekommen waren, an diesem Tag nicht ins Lager bringen durften. Menschen wurden sogar bei brütender Hitze stundenlang in Busse gepfercht, nur damit sie nicht gesehen werden konnten. Wenn man das in der EU macht, wie wird das dann erst in Ruanda aussehen, wenn das Land absolut abhängig von den Geldern ist!

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