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Ein Friedensbündnis wäre gefragt
Sevim Dağdelen ist ohne Illusion über die Nato, die bald Geburtstag feiert
Nächste Woche feiert die Nato ihr 75-jähriges Bestehen. Dass die Nato-Mitgliedschaft Deutschlands eine gute Sache ist, scheinen auch immer mehr Linke zu glauben. Lang ist es her, dass die Grünen forderten, die Bundesrepublik möge sich der militarisierten Außenpolitik von Nato und USA entziehen und aus dem Militärbündnis austreten. Das stand 1987 in ihrem Wahlprogramm.
»Eine wünschenswerte Auflösung der Nato bei gleichzeitiger Schaffung eines alternativen kollektiven Sicherheitssystems scheint gegenwärtig in weiter Ferne zu liegen«, so schätzt Sevim Dağdelen in ihrem neuen Buch »Die Nato« die Lage ein. Sie gehört seit 2005 dem Bundestag an und ist mittlerweile die außenpolitische Sprecherin von »Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit«.
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Sich durch den Nordatlantikpakt beschützt zu fühlen, ist für Dağdelen ein Mythos aus der alten Bundesrepublik, als der Bevölkerung die Angst vor dem »kommunistischen Osten« eingeredet wurde. Es bleibt festzuhalten, dass die Nato am 4. April 1949 gegründet wurde und der Warschauer Vertrag erst im Mai 1955 als Reaktion darauf. Zwei Machtblöcke rangen im Kalten Krieg um Einfluss, hielten sich aber auch gegenseitig in Schach. Als Gorbatschow die Hand zur Versöhnung ausstreckte, weil die UdSSR vom Wettrüsten ökonomisch überfordert war, wurde das jenseits des Atlantiks als Kapitulation verstanden, als Einladung zu unumschränkter Weltherrschaft.
Das alles ist einerseits wohlbekannt und wird andererseits ignoriert. Zu geopolitischen Fragen – USA, Nato-Osterweiterung, Europa, Ukraine-Krieg – gibt es schon viele dicke Bücher. Das vorliegende umfasst mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat gerade einmal 128 Seiten. Es ist eine komprimierte, präzise Darlegung, warum die Autorin den 75. Geburtstag des Militärbündnisses nicht mitfeiern möchte.
Handelt es sich dabei wirklich um ein Verteidigungsbündnis im Sinne von Völkerrecht, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Wertegemeinschaft und Menschenrechten? Dağdelen misst die Nato an ihren hehren Maximen, die sie in der Vergangenheit unablässig verraten hat. Das damals faschistisch beherrschte Portugal war Gründungsmitglied, die Militärdiktaturen in Griechenland und in der Türkei waren keinerlei moralisches Problem.
Organisatorisches Vorbild bei der Gründung des Bündnisses war der »Interamerikanische Vertrag über gegenseitigen Beistand« von 1947, mit dem die USA ihren Einfluss in Lateinamerika festschrieben (und dort viele reaktionäre Politikwechsel vorantrieben). Auch in der Nato gibt die Supermacht USA den anderen Staaten sogenannte Sicherheitsgarantien und verlangt dafür politisches Einverständnis. »Die übrigen Nato-Mitglieder sinken innerhalb des Militärpakts zu Klientelstaaten herab wie jene, die einst im Osten des Römischen Reiches als militärische Pufferzone dem Machterhalt des römischen Imperiums dienten«, schreibt Dağdelen.
Es ist es gut, dieses schmale Buch zum Nachschlagen griffbereit zu haben. Zwölf Kapitel nebst Einleitung und Ausblick fassen historische Zusammenhänge und aktuelle Aspekte auf stimmige Weise zusammen. Dağdelen unterstreicht die Dialektik politischen Agierens der USA, die nicht selten zum Gegenteil des Gewollten führt. Auf »Teufel komm raus« wird entschieden und dabei vergessen, dass jede Reaktion eine Gegenreaktion zur Folge hat. Dass die US-Präsidenten sich subjektiv demokratischen Werten verpflichtet fühlen und an eine höhere Mission ihres Landes glauben, muss nicht einmal in Abrede gestellt werden. Doch wie sich die USA mit diesem Vorsatz in die Belange anderer Länder einmischen, führt immer wieder zum Desaster, ja zu Verbrechen.
So absurd es klingt: Als sich die beiden Machtblöcke im Kalten Krieg als Gegner sahen und notgedrungen verhandeln mussten, gab es in der Welt eine gewisse Balance. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus verfuhren die USA nach dem Motto »The Winner Takes It All« und zogen alle Register. Sie wollten Russland weiterhin schwächen und zwangen es geradezu zur Stärke. Dağdelen zitiert den Diplomaten und Historiker George F. Kennan, der vor einer Nato-Osterweiterung warnte, weil dadurch nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit angeheizt würden. »Die Nato-Staaten öffneten mit der Kosovo-Anerkennung 2008 die Tür, durch die Russland in der Folge ging«, um seinerseits Unabhängigkeitserklärungen (Abchasien, Südossetien, Donezk, Lugansk) zu unterstützen.
Dağdelen nennt den Angriff auf die Ukraine völkerrechtswidrig, erkennt aber auch die russischen Sicherheitsinteressen. Dieser Stellvertreterkrieg sei die bisher größte Herausforderung der Nato seit ihrer Gründung. »Allein der Umfang der finanziellen Mittel stellt alles in den Schatten, was bisher von den Nato-Staaten in Kriegen und Konflikten eingesetzt wurde.« Im Vergleich zu Russland gibt die Nato das 15-Fache für Rüstung aus. Dass Militärkonzerne, allen voran die aus den USA, davon sehr gut profitieren, versteht sich. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte würden dabei laut Dağdelen jedoch »die Ressourcen, die Kriegsproduktion und die militärische Lernfähigkeit Russlands massiv« unterschätzt. Der Wirtschaftskrieg, dem ein ganzes Kapitel im Buch gilt, ließ Bündnisse entstehen, die man sich früher nicht hätte vorstellen können. Der Westen ist dabei, seine Vormachtstellung zu verlieren.
Ein »neues Denken im Atomzeitalter« – worauf Gorbatschow einst vergeblich hoffte – ist heutzutage tatsächlich notwendiger denn je, auf beiden Seiten. Statt eines Bündnisses für den Krieg brauche es eines für den Frieden, fordert Dağdelen mit Mut zur Diplomatie, um den Wirtschaftskrieg zu beenden und zur Abrüstung zurückzufinden. Denn »statt den Feind zu ruinieren, ruinieren die Sanktionen das eigene Land«, betont sie.
Sevim Dağdelen: Die Nato. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis. Westend, 128 S., br., 16 €.
nd-Literatursalon mit Sevim Dağdelen am 3. Oktober, 18 Uhr.
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