Ein gebrauchter Tag: Holland hadert mit dem Aus im EM-Halbfinale

Die EM-Reise von »Oranje« geht im Halbfinale von Dortmund trübselig zu Ende. Ein deutscher Schiedsrichter steht im Mittelpunkt

  • Frank Hellmann, Dortmund
  • Lesedauer: 4 Min.
Der holländische Kapitän Virgil van Dijk beschwerte sich im Verlauf des EM-Halbfinales öfter bei Schiedsrichter Felix Zwayer.
Der holländische Kapitän Virgil van Dijk beschwerte sich im Verlauf des EM-Halbfinales öfter bei Schiedsrichter Felix Zwayer.

So manch einer glaubte auf den Gleisen des Dortmunder Hauptbahnhofs an einen schlechten Scherz. Bei einigen waren die Tränen über das bittere Ausscheiden ihrer Lieblinge noch nicht getrocknet, als viele Anhänger der »Oranjes« in dieser Nacht nicht mehr weiterwussten. Kaputte Züge, ratlose Polizisten und fehlende Informationen ließen diesen so freudvoll begonnenen Tag in der Bierstadt noch ernüchternder enden. Pures Glück entschied darüber, wer irgendwann weit nach Mitternacht eine Bahn erwischte, die unter höhnischem Applaus in Richtung Köln oder Düsseldorf fuhr, wohin es viele niederländische Anhänger ja wegen fehlender Hotelkapazitäten in Dortmund verschlagen hatte.

Insgesamt fast 100 000 Niederländer wollten irgendwie teilhaben, wenn die »Elftal« ein drittes Mal nach 1974 und 1988 ein Endspiel bei einem Turnier auf deutschem Boden erreicht. Ronald Koeman, einst ja eine in verschiedenen Rollen auffällige Figur beim Europameisterteam von 1988, wirkte zwar getroffen, aber nicht geschockt. »Wir haben gekämpft wie die Löwen«, sagte der Bondscoach. »Wir sollten stolz sein, weil wir in diesen Wochen viel erreicht haben, und ich werde mein Team nicht kritisieren.« Dafür ist die Beziehung zwischen der Mannschaft und den Menschen wieder zu eng geworden – insbesondere das tiefe Tal mit den verpassten Teilnahmen der EM 2016 und WM 2018 ist endgültig überstanden.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Trotzdem stand dort, wo gemeinhin die »Gelbe Wand« bei Heimspielen von Borussia Dortmund den Ton angibt, mit Schlusspfiff eine paralysierte Masse in ihren orangefarbenen Verkleidungen. Das Nachbarland mit fast der exakten Einwohnerzahl wie Nordrhein-Westfalen hatte schwer an diesem Fußballabend zu knabbern, der mit dem Traumtor von Xavi Simons so schön begann, aber letztlich durch das Gegentor von Ollie Watkins in der 91. Minute bitter endete. »Sie haben ein zweites Tor geschossen und das war der Grund für unsere Niederlage«, sagte Koeman in Richtung der Engländer, denen der 61-Jährige artig gratulierte.

Der niederländische Nationaltrainer hätte vermutlich auch Schiedsrichter Felix Zwayer die Hand gegeben, der allerdings noch während Koemans Umarmung mit dem Kollegen Gareth Southgate fast fluchtartig in die Kabine hastete. Ein Umstand, der einigen beim Verlierer mächtig auf den Geist ging. »Es sagt doch alles, dass er direkt in die Kabine rennt und keine Zeit hat, uns die Hand zu geben«, schimpfte Kapitän Virgil van Dijk. Der Abwehrchef beteiligte sich an der Debatte um den deutschen Referee, der im Zusammenspiel mit Videoassistent Bastian Dankert einen Elfmeter verhängte, den Harry Kane zum 1:1 nutzte (18.). Van Dijk hätte in dieser Szene, als sein Verteidigerkollege Denzel Dumfries kurz nach dem Schuss von Kane den Fuß des englischen Torjägers berührte, »keinen Elfmeter gegeben«, während der nachträglich mit Gelb verwarnte Verursacher Dumfries einräumte, »dass man den Elfmeter geben kann«. Auf den Videowänden leuchtete zur Begründung für den VAR-Eingriff auf, das Eingreifen sei »rücksichtslos« gewesen. War es das beim Kampf um den Ball wirklich?

Die Kardinalfrage lautete wieder einmal, wann der Videoassistent entscheidend einschreitet. Ohne Hinweis aus dem Leipziger Kontrollraum und ohne Studium in der Review-Area hätte Zwayer nicht auf den Punkt gezeigt. Dass der 43-Jährige ausgerechnet wieder in Dortmund in den Fokus rückte, wirkte skurril. Im Dezember 2021 war es der damals noch für den BVB spielende Engländer Jude Bellingham, der nach einer strittigen VAR-Entscheidung im Spiel gegen die Bayern Zwayers Beteiligung im Hoyzer-Skandal thematisierte. Die Episode, in die auch der Berliner als Randfigur verwickelt war, liegt inzwischen zwar fast zwei Jahrzehnte zurück, aber auch Zwayers Intimfeind Manuel Gräfe sah sich prompt in seiner Kritik an der Ansetzung bestätigt.

Die Schiedsrichter-Kommission der Uefa habe »sehenden Auges« eine unnötige Diskussion bekommen. Gräfe schrieb bei X: »Als ob es in ganz Europa keinen anderen gegeben hätte. Ein Schlag für alle integren und besseren Referees und so unnötig wie ein Kropf.« Fern so tumber Tiraden trug Koeman in der Pressekonferenz noch fachliche Kritik vor. »Er wollte den Ball blocken. Das zu bestrafen, ist, wie ihm zu sagen, dass wir nicht richtig Fußball spielen können.« Das Unverständnis des früheren Weltklasse-Liberos richtete sich tendenziell gegen die Anwendungspraxis des Videobeweises: »Wir können nicht richtig Fußball spielen und das liegt am VAR. Er bricht den Fußball.« Es war sein betrübtes Schlusswort zu einem auf vielen Ebenen gebrauchten Abend für die Niederlande.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.