Gerechtigkeit: ja und nein

Zehn Jahre nach dem Abschuss von MH17 über der Ostukraine gedenken die Niederlande der vielen Opfer

  • Sarah Tekath, Amsterdam
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Niederlande haben so viele Trümmer der abgeschossenen Boeing gesammelt, wie sie konnten. Diese dienten als Beweis vor Gericht und sollen Teil eines Dokumentationszentrums werden.
Die Niederlande haben so viele Trümmer der abgeschossenen Boeing gesammelt, wie sie konnten. Diese dienten als Beweis vor Gericht und sollen Teil eines Dokumentationszentrums werden.

Für die Niederlande ist der 17. Juli 2014 ein traumatisches Datum. Vor zehn Jahren wurde der Malaysia-Airlines-Flug 17 (MH17) auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur über der Ostukraine von einer russischen Luftabwehrrakete getroffen. Alle 298 Passagiere und Besatzungsmitglieder kamen ums Leben, darunter 193 Niederländer*innen.

Zum Andenken an die Opfer findet am Mittwoch in Vijfhuizen, am nationalen MH17-Monument, eine Gedenkfeier statt. Neben König Willem Alexander und Ministerpräsident Dick Schoof werden auch rund 1300 Hinterbliebene erwartet. Im Rahmen der Veranstaltung werden die Namen aller Getöteten verlesen, anschließend wird eine Schweigeminute abgehalten.

Abschuss bis heute unbegreiflich

In den Tagen vor dem Jahrestag widmen niederländische Medien sich dem Thema mit Dokumentationen, Serien, Podcasts und Artikeln. In vielen kommen die Hinterbliebenen der Opfer zu Wort, aber auch jene Menschen, die im Kriegsgebiet der Ukraine mit der Identifizierung, dem Rücktransport und später in den Niederlanden mit den DNA-Analysen der Toten halfen. Niederländer*innen erinnern sich an die Tage des Schockzustands, des Nichtbegreifenkönnens, aber auch der sehr respektvollen Art, wie der Trauerzug der Opfer wieder im eigenen Land empfangen wurde.

Rückblick: Unmittelbar nach Bekanntwerden der Katastrophe kommt in Den Haag im Krisenzentrum der nationalen Einheit für Terrorismusbekämpfung und Sicherheit (NCTV) ein Stab zusammen. Schnell sind drei Ziele klar: Rückführung aller Opfer, Wahrheitsfindung und Strafverfolgung.

Mit dabei im Krisenstab: Dick Schoof, damals Leiter der Einheit für Terrorismusbekämpfung, mittlerweile Ministerpräsident der Niederlande. Für eine Dokumentation des niederländischen Fernsehsenders NOS erinnert er sich. »Im Fall von zwei Menschen ist es uns nicht gelungen, ihre sterblichen Überreste zurückzubringen. Deren Familien müssen damit leben«, erklärt Schoof. »Die Wahrheitsfindung verlief gut, aber bei der Strafverfolgung haben wir schlussendlich niemanden für seine Taten ins Gefängnis bringen können. Das Gefühl von Gerechtigkeit ist zwar da, aber doch noch nicht so, wie es eigentlich hätte sein sollen.«

Täter verurteilt, aber nicht bestraft

Im Fall des russischen Anschlags auf die Passagiermaschine MH17 kam es vor mehreren Gerichten zu Verfahren. Dabei kamen auch Hinterbliebene der Opfer zu Wort. Ria van der Steen nutzte die Gelegenheit, das russische Regime direkt anzusprechen, mit einem Zitat des Systemkritikers und Literaturnobelpreisträgers Alexander Solschenizyn, das sie auf Russisch vorträgt. »Sie lügen. Wir wissen, dass sie lügen, und sie wissen, dass wir wissen, dass sie lügen.«

Im Hauptverfahren in Den Haag wurden im Jahr 2022 die Angeklagten Igor Girkin (Strelkow), Sergej Dubinskij und Leonid Chartschenko in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Der vierte Angeklagte, Oleg Pulatow, wurde freigesprochen. Girkin sitzt zurzeit eine vierjährige Haftstrafe wegen »Aufrufs zum Extremismus« in Russland ab, nachdem er Präsident Wladimir Putin mehrfach deftig kritisiert hat.

Tom Middendorp, damals Befehlshaber der niederländischen Streitkräfte und ebenfalls Teil des Krisenstabs, fasst es gegenüber NOS wie folgt zusammen: »Die Chance, dass wir dieser Menschen wirklich habhaft werden, ist sehr klein. Sie sind irgendwo im Hintergrund in Russland und die Chance, dass sie jemals in Europa oder anderswo gefasst werden, ist verschwindend gering. Das müssen wir leider ehrlich sagen.«

Trümmerteile sollen ausgestellt werden

Zurzeit liegen die nach dem Absturz in die Niederlande überführten Wrackteile in Verwahrung auf dem Militärflugplatz Gilze-Rijen, viele Stücke blieben jedoch unauffindbar. Im Jahr 2015 wurde das Flugzeug anhand der vorhandenen Teile rekonstruiert, um den durch die Rakete verursachten Schaden eruieren zu können. Nach einem Urteil von 2022 ist der Prozess abgeschlossen.

Die Stiftung Vliegramp MH17 fordert jetzt, so erklärt sie gegenüber dem niederländischen Medium nu.nl, dass die Rekonstruktion an die Gedenkstätte in Vijfhuizen überführt wird, wo jährliche Gedenkfeiern stattfinden und nach Angaben des Vorsitzenden Piet Ploeg ein Informations- und Dokumentationszentrum entstehen soll. Die Arbeiten daran sind demnach bereits im Gange. Die Wrackteile von MH17 sollen Teil davon werden.

Derzeit befindet sich das Projekt noch in der Planungsphase, zuerst muss die neue Regierung die finanziellen Mittel zusichern. Die Stiftung Vliegramp MH17 hofft, dass das Informationszentrum innerhalb von zwei bis drei Jahren fertiggestellt sein wird, auch wenn die Verlegung der Rekonstruktion vermutlich länger dauern wird. »Diese ist der einzige Ort, an dem Angehörige so nah an den Tod ihrer Verwandten herankommen können. Es ist wichtig, das zu bewahren.«

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