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Arbeitsmigranten in Russland: Flüstern verboten, Bruder!
Russland will Arbeitsmigranten in einem Kurs das »richtige« Verhalten beibringen und plant zugleich, mehr Menschen abzuschieben
Russland nimmt die Arbeitsmigranten aus Zentralasien wieder stärker ins Visier. In einem 70-minütigen Kurs sollen sie alles Wichtige über Leben und Arbeiten in Russland lernen. Das berichtet die Tageszeitung »Kommersant«, die das Kursmaterial einsehen konnte. Ausgearbeitet hat den Kurs die Föderale Agentur für Nationalitätenangelegenheiten.
Während Informationen über Aufenthaltsformalitäten und Arbeitsrecht oder das Erlangen der russischen Staatsbürgerschaft durchaus sinnvoll erscheinen und beim Ankommen helfen könnten, wirft ein anderer Teil durchaus Fragen auf.
»Bruder« und »Schwester« sind in Russland keine Anreden
In »Grundlagen des zwanglosen Verhaltens« sollen die Arbeitsmigranten lernen, nicht über andere Menschen in ihrer Muttersprache zu reden oder in Gegenwart anderer darin zu flüstern. Dies sei nicht angebracht, heißt es im Kursmaterial. Ebenso wie die Anreden »Bruder« und »Schwester« für Menschen sind, die nicht Teil der eigenen Familie sind, soll der Kurs aufklären. Dass die zukünftigen Kursteilnehmer in den zugehörigen Videos mit »Salam aleikum, Brüder und Schwestern« begrüßt werden, entbehrt nicht einer gewissen russischen Alltagsironie.
Ernster zu nehmen sind hingegen die Hinweise, dass Migranten sich nicht an Protesten beteiligen, öffentlich beten oder Tiere schächten dürfen.
Noch ist der Kurs ein Gedankenspiel. Nach Ansicht von Experten könnte er jedoch bald Realität werden, schreibt der »Kommersant«. Und dennoch scheitern. Denn organisieren müssen den Kurs die einzelnen Regionen. Und dort fehlen die Strukturen und die Spezialisten für das Vorhaben.
Neuer Kurs macht Migranten Angst
In der zentralasiatischen Community sorgt das Vorhaben bereits jetzt für Unruhe. Viele machen sich Sorgen, dass sie bestraft werden, wenn sie ihre Muttersprache sprechen und denken darüber nach, in andere Länder auszuwandern. Hinzu kommt die Unsicherheit, wie sich die Rechtslage für Migranten entwickelt. »Die Gesetze ändern sich hier jeden Tag. Wir müssen schauen, wie es wird«, zitiert das US-amerikanische Staatsmedium »Radio Asattyk« einen Mann aus Kirgistan. Ein anderer spekuliert, dass die neuen Regeln den Sicherheitsorganen neue Möglichkeiten eröffnen, an Migranten zu verdienen, sprich Bestechungsgelder zu fordern.
Der vielleicht sogar helfend gemeinte Kurs fällt in eine Zeit, in der der Druck auf zentralasiatische Migranten in Russland deutlich zugenommen hat. Nach dem Terroranschlag auf die Crocus City Hall am Moskauer Stadtrand Ende März mit 145 Toten hat die Fremdenfeindlichkeit spürbar zugenommen. Landesweit gibt es immer mehr Razzien, um Menschen, die sich nicht legal in Russland aufhalten, festzunehmen. Dafür reicht bereits ein fehlender Stempel im Arbeitsbuch aus.
Gewalt gegen Migranten in Abschiebeeinrichtungen
In den Abschiebeeinrichtungen kommt es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen der Mitarbeiter. Dabei sollen Migranten in einer Einrichtung im Moskauer Umland mit Elektroschockern traktiert worden sein, berichten zwei Männer aus Kirgistan der kasachischen Nachrichtenseite »Arbat Media«.
Nach Angaben des russischen Innenministeriums befanden sich im ersten Quartal 2024 mehr als 6800 Menschen in solchen Abschiebeeinrichtungen, doppelt so viele wie im Vorjahr. Verdoppelt hat sich auch die Zahl der Abschiebungen auf etwa 22 000. Hinzu kommen 79 000 Fälle, in denen Menschen die Einreise verweigert wurde. Zurückgegangen sind dagegen temporäre (minus 41 Prozent) und dauerhafte Aufenthaltsgenehmigungen (minus 20 Prozent).
Innenministerium will mehr Menschen ausweisen
Für die Hardliner in den Sicherheitsbehörden scheint das nicht genug zu sein. Vor wenigen legte Tagen das Innenministerium eine erweitere Liste mit Vergehen vor, die zur Ausweisung aus Russland führen sollen. Für Migranten gilt dann nicht nur ein Versammlungsverbot. Sie dürfen auch niemanden zu einem Streik überreden, Extremismus und Terrorismus »rechtfertigen« oder verbreiten, Medieninformationen »missbrauchen« oder sich den Anweisungen von Polizisten widersetzen.
Russlands Wirtschaft ist auf die billigen Arbeitskräfte aus Zentralasien angewiesen. Laut Präsident Wladimir Putin sollen es bis zu zehn Millionen sein. Seit der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg kommen jedoch immer weniger Menschen. Auch die xenophobe Politik lässt viele nach anderen Arbeitsmöglichkeiten suchen.
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