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Lenin: Zwischen Traum und realem Leben
Zwei Österreicher haben sich an Vita und Werk des russischen Revolutionärs und Theoretikers Lenin gewagt
Zu den Entdeckungen auf dem mehr als übersichtlichen Büchertisch anlässlich des 100. Todestages von Wladimir Iljitsch Lenin im April dieses Jahres gehört eine von einem österreichischen Autorenduo verfasste Biografie des russischen Revolutionärs und Theoretikers. Wie manch andere Autoren versuchen sich Verena Moritz und Hannes Leidinger ihrem Protagonisten im Spannungsfeld von »Traum und Leben« zu nähern, wie es Lenin selbst einmal formulierte. Herausgekommen ist zwar nicht »die« Biografie oder gar eine »Neubewertung«, wohl aber ein in postrealsozialistischen Zeiten herausragendes Buch.
Es geht nicht um die Ehrenrettung eines Bolschewiken aus ewiger Verdammnis, sondern um ein seriöses, sachlich und gelassen verfasstes Porträt. In diesem Band findet sich eine ausgewogene Bestandsaufnahme vor allem der theoretischen Hinterlassenschaft Lenins wie auch des umfangreichen, jedoch wenig schmeichelhaften Forschungsstandes.
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Moritz/Leidinger setzen sich mit Biografien auseinander, die jenseits der Glorifizierungen in der sowjetischen Historiografie durchaus ambivalent und oft nicht wohlwollend ausgefallen sind, studierten Lenins Schriften und die seiner Zeitgenossen sowie etliche Archivalien. Sie registrieren, dass das Bild über Lenin als brutaler Machtmensch »relativ stabil« geblieben ist. Enthüllungen ab den 90ern, die den Begründer des Sowjetstaates als rücksichtslosen Fürsprecher von Terror und Unterdrückung entlarven sollten, werden von ihnen akribisch untersucht.
Die beiden Autoren halten auch nichts von einer vereinfachenden Entgegensetzung von Lenin und Stalin. Ihr Thema ist nicht die Suche nach dem »guten Lenin« oder eine Bewertung des gescheiterten sozialistischen Experiments. Sie wollen den »historischen Lenin« jenseits aller Schwarz-Weiß-Zeichnungen entdecken, natürlich mit dem Wissen ihrer Zeit und der unumstößlichen Tatsache der Niederlage des Realsozialismus.
Es geht Moritz/Leidinger nicht darum, »was hätte sein können«, sondern darum, »was war oder aus unterschiedlichen Gründen sich zu was entwickelte, das sich von Lenins – durchaus fragwürdigen – ursprünglichen Plänen einerseits weit entfernte und ihnen andererseits entsprach«. Da die beiden sich in ihren Betrachtungen von Karl Kautsky leiten lassen, fällt ihre Sicht auf das Anliegen Lenins und seiner engsten Mitstreiter wohlwollend aus. Zugleich finden sie bei jenen Stoff für Argumente, die Politik bereits der ersten Garde der Bolschewiki als repressiv oder reaktionär abzulehnen. »Die Ablehnung, die Lenins Regime von vielen ehemaligen Weggefährten, aber auch anderen Linken entgegenschlug, speiste sich nicht zuletzt aus der Sorge vor einer unheilvollen Kompromittierung des Marxismus und seiner Lehren. Der Ruf des sozialdemokratischen ›Befreiungsprojekts‹, das sich in Zusammenhang mit der Forderung nach Bürgerrechten, sozialen Reformen, der Bekämpfung geburtsrechtlicher Privilegien oder der überfälligen Berücksichtigung von Frauenrechten historische Verdienste erwarb, nahm angesichts des Oktoberregimes und seiner Fortsetzung unter Stalin tatsächlich enormen Schaden.«
Moritz/Leidinger räumen den theoretischen Positionen Lenins einen besonderen Platz ein, wobei die realpolitische, konfliktbeladene Wirklichkeit nicht ausreichend erfasst wird, mit der er sich im Interesse der arbeitenden Massen auseinandersetzen musste. Sichtlich zu wenig wird der Revolutionsführer und Staatsmann gewürdigt, der es nicht nur fertigbrachte, eine sich als sozialistisch verstehende Revolution auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen durchzusetzen. Und dem es gelang, Russland aus dem Ersten Weltkrieg herauszuführen, wenn auch zu einem sehr hohen Preis, dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk.
Lenin war neben Leo Trotzki Inspirator einer machtvollen Antikriegs- und Revolutionsbewegung auch außerhalb Russlands. Unter den Bedingungen von Bürger- und Interventionskriegen verteidigte und etablierte er den jungen Sowjetstaat, bis dahin einzigartig in der Welt und Hoffnung für die »Länder des Ostens« (heute sagt man Globaler Süden) sowie Motivation für deren antikolonialen, antiimperialistischen Kampf.
Auch diese beiden Biografen kommen zu dem Schluss, dass »Lenin niemals Zweifel an der Notwendigkeit von Gewalt und Zwang gehabt habe«, belegen und beklagen dies zugleich. Sie konstatieren: »Eines ist gewiss: Der Oktoberumsturz hätte ohne Lenin nicht stattgefunden, und die soziale Revolution, die er nun ausrief, wäre das geblieben, wofür sie auch ein Gutteil seiner Anhänger damals hielt: eine Utopie.« Sie konnte für sieben Jahrzehnte Wirklichkeit werden, mit ihren Leistungen wie den Verbrechen und Versäumnissen in ihrem Namen. Elend, Ausbeutung, Krieg, nationale und soziale Unterdrückung waren Wegbereiter der Revolution – und sie sind nach deren schlussendlichem Scheitern wieder weltweit omnipräsent.
Verena Moritz/Hannes Leidinger: Lenin. Die Biografie. Eine Neubewertung. Residenz Verlag, 668 S., geb., 38 €.
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