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Schrumpfen als Chance?
Die Menschheit steuert auf eine demografische Wende zu, doch die Ursachen und Folgen sind kaum verstanden
Am 11. Juli haben die Vereinten Nationen neue Prognosen zur Entwicklung der Weltbevölkerung veröffentlicht: Die Menschheit wächst langsamer als noch vor zehn Jahren vermutet, und der Höchstwert, den sie schon in den 2080ern erreichen soll, wird mit etwas mehr als zehn Milliarden geringer ausfallen als angenommen. Grund dafür sind die weltweit rasch sinkenden Geburtenraten – ein Trend, der in den sogenannten entwickelten Ländern seinen Anfang nahm, aber schon längst die Gesellschaften der Schwellenländer erreicht hat und sich nun sogar in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara abzuzeichnen beginnt.
Die UN feiert die neuen Daten als eine gute Nachricht: »Der frühere und niedrigere Maximalwert ist ein Zeichen der Hoffnung. Denn dies könnte bedeuten, dass die vom Menschen verursachten Umweltbelastungen aufgrund des geringeren Gesamtverbrauchs abnehmen.« Wie viele Menschen die Erde ernähren könnte, wagt die UN nicht mehr zu schätzen. Die Frage ist zu kompliziert, hängt aber auch davon ab, welche Technologien wir in Zukunft besitzen und wie wir überhaupt leben wollen. Aber angesichts der voranschreitenden Naturzerstörung ist klar: Je weniger wir sind, desto eher lassen sich die planetaren Grenzen einhalten. Also: Endlich einmal ein Lichtblick!
Allein, was die UN als gute Nachricht vermeldet, sollte in Wahrheit differenzierter betrachtet werden.
Europa hat heute ein Medianalter von 42 Jahren, Tendenz steigend.
Als erstes muss man nämlich feststellen, dass die demografische Trendwende, die als die einzige wirklich wirksame globale Maßnahme erscheint, die wir bisher gegen die Naturzerstörung ergriffen haben, überhaupt keine politische Maßnahme ist. Sie ist bestenfalls eine glückliche Fügung, wurde aber in keinem Land beschlossen oder auch nur bewusst beeinflusst. Die gute Nachricht von der UN über den rettenden Zufall kaschiert schlicht unser politisches Versagen in Sachen Ökologie.
Und damit kommen wir zu dem zweiten Schatten, der auf der guten Nachricht liegt: Gerade weil der demografische Wandel nicht geplant war, sondern spontan geschieht, sind seine Ursachen weitgehend unklar. Aus den Statistiken lässt sich lediglich entnehmen, dass er irgendetwas mit Wohlstand und Modernisierung zu tun hat: steigendes BIP, Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, veränderte Lebensentwürfe mit späterer Elternschaft, Sozialversicherungsstrukturen, die (eigene) Kinder zur Altersvorsorge überflüssig machen. Aber es gibt noch eine weitere mögliche Ursache, die zur guten Nachricht nicht passen will: Wir leben in einer zunehmend verseuchten Umwelt. Schon im Blut von Neugeborenen lassen sich Umweltgifte nachweisen. Viele davon wirken hormonähnlich und können die Zeugungsfähigkeit beeinträchtigen. Die sinkenden Geburtenraten könnten auch damit zusammenhängen. Meines Wissens geht dem keine Regierung der Welt in flächendeckenden Studien auf den Grund. Die EU begnügt sich damit, in der »Human Biomonitoring Initiative« die voranschreitende Vergiftung der Bevölkerung durch Pestizide und Plastikzusätze usw. zu dokumentieren, sieht aber von Verboten gefährlicher Substanzen ab.
Aber nicht nur die Ursachen, sondern auch die Auswirkungen des demografischen Wandels sind unbekannt, und dies ist der dritte Grund zur Sorge. Unsere Gesellschaft beginnt allmählich zu spüren, welche Herausforderungen eine alternde Bevölkerung mit sich bringt, zum Beispiel hinsichtlich der nötigen Infrastruktur in medizinischer Versorgung und Pflege. Weniger gesprochen wird über die politischen Folgen. Eine alternde Bevölkerung ist nicht unbedingt konservativer oder an Zukunftsfragen weniger interessiert. Das zeigen eindeutig Zahlen zum umweltpolitischen Engagement. Aber wenn man einmal in welthistorischen Maßstäben denkt, wird klar: Die großen politischen Umbrüche geschahen alle in Gesellschaften mit einer vollkommen anderen demografischen Struktur. Europa hat heute ein Medianalter von 42 Jahren, Tendenz steigend. Bei der Französischen Revolution dürfte es dem heutigen afrikanischen Wert von 18 Jahren deutlich näher gewesen sein. Um es einmal als Hypothese zu formulieren: Alte Menschen – und damit sind nun alle über 25 gemeint, den Autor eingeschlossen – machen keine Revolutionen. Was aber, wenn wir angesichts der ökologischen Krise genau dies bräuchten?
Aber nicht nur politisch, sondern sogar biologisch könnte sich die demografische Wende als Problem erweisen. Die Biologie hat inzwischen verstanden, dass es Wechselwirkungen zwischen natürlicher Evolution und kultureller Entwicklung gibt und auch gesellschaftliche Entwicklungen ihren Fußabdruck im Genom hinterlassen können. Daher hat der britische Biologe Robert John Aitken recht, wenn er in einem aktuellen Artikel fragt, welche evolutionären Folgen der demografische Wandel haben kann. Er befürchtet eine »demografische Falle«. Normalerweise werden in der biologischen Evolution alle Mutationen, die zu geringerer Fruchtbarkeit führen, automatisch durch reproduktiv erfolgreichere Konkurrenten verdrängt. In einer Gesellschaft mit niedriger Geburtenrate, geringer Kindersterblichkeit und entwickelter Reproduktionsmedizin wird dieser Mechanismus aber außer Kraft gesetzt, weshalb sich eine sinkende Fruchtbarkeit nun auch genetisch verankern kann. Mit anderen Worten: Wenn die Weltbevölkerung sich auf einen ökologisch verträglicheren Umfang reduziert hat, könnte sie biologisch die Fähigkeit verloren haben, sich auf diesem Niveau zu stabilisieren.
Politisch ist das natürlich genauso wenig ein Argument gegen den demografischen Wandel oder gegen die Reproduktionsmedizin, wie es ein Argument für eine höhere Kindersterblichkeit wäre. Aber es zeigt, dass wir uns mit der UN über eine Entwicklung zu freuen anschicken, die wir gar nicht begriffen haben und deren Bedeutung uns gar nicht klar ist. Was Gegenstand einer dringlichen und aufgeklärten Politik sein sollte, stellt sich eher als anhaltende Irrfahrt des Menschengeschlechts heraus, womit sich eine kapitalistische Moderne, die sich für den Inbegriff der Rationalität hält, ein schlechtes Zeugnis ausstellt.
Oliver Schlaudt ist Professor für Philosophie und Politische Ökonomie an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz.
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