- Kultur
- Sachsen-Anhalt
Stephanie Kiwitt: »Warum gehen, wenn man auch daheim sein kann?«
Ist Sachsen-Anhalt ein melancholisches Land? Ein Gespräch mit Stephanie Kiwitt, die Orte fotografierte, die gewöhnlich keine Beachtung finden
Sie kommen ursprünglich aus Bonn, haben mehr als zehn Jahre lang in Brüssel gelebt. Nun haben Sie einen umfangreichen Band mit Fotos veröffentlicht, die während Fahrten durch Sachsen-Anhalt entstanden sind. Mit welchem Blick haben Sie die Landschaften aufgenommen?
Ich bin 2020 für meine Professur an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein nach Halle gezogen. Ich wollte nicht nur Halle und sein Umfeld, sondern Sachsen-Anhalt kennenlernen. Ich war neugierig: Wo bin ich hier eigentlich? Mein Blick ist ein zugewandter Blick eines ersten Kennenlernens, des nach vorn und nach links Schauens, um dann wieder einen Schritt zurück und dann erneut nach vorne zu gehen. Ein Blick, der sich auf verschieden aufeinanderfolgenden Fahrten durch den Raum, durch das Bundesland bewegt.
Wie war Ihre erste Fahrt?
Ich war im Dezember 2020 mit einem Freund und Kollegen auf Recherchetour für ein Hochschulprojekt zu Strukturwandel und Kohleausstieg unterwegs. Wir fuhren vom Braunkohletagebau Profen hinein ins ehemalige Mansfelder Kupferschieferbergbaurevier. Es war ein nebliger Tag. Mir war damals noch gar nicht klar, dass ich hier mit einer Arbeit beginne. Aus dem Nebel heraus kamen wir nach Sandersleben. Plötzlich war die Weite der Landschaft weg und die Straße eng, die Ortschaft wirkte gedrungen. Eine Kirchturmspitze ragte eigenwillig in die Luft. Dieses Bild hat mich stark berührt. Zugleich hatte ich das Gefühl, die Zeit sei hier stehen geblieben. Mit Profen und Sandersleben beginnt mein Buch. Es folgen Bilder und Sequenzen von zahlreichen Orten, die ich bis Anfang 2022 besucht habe. Das Buch ist chronologisch angelegt, und man kann alle abgebildeten Orte im Inhaltsverzeichnis nachschlagen. Auf meinen Touren folge ich keiner bestimmten Ordnung. Manchmal steuere ich Ziele an, von denen ich vorher gehört oder gelesen habe; andere Orte habe ich spontan unterwegs entdeckt.
Auch die Aufnahmen der Straßen und Häuser wirken manchmal spontan.
Ich war oftmals überrascht, von dem, was ich gesehen habe. Mir ist es wichtig, die Eigentümlichkeiten einzelner Straßen und Häuser zu zeigen, die einen gewissen Stolz ausstrahlen. Manche Häuser scheinen in ihrer Widerspenstigkeit nicht recht ins Bild passen zu wollen. Einige kommen mit ihren zerschlissenen Fassaden einer Wunde gleich.
In Form von Ruinen, die leer stehen und stehen gelassen wurden?
Manchmal sind es wirkliche Ruinen, wie die im Krieg zerstörte Zerbster Kathedrale, die als Denkmal innerhalb einer Plattenbausiedlung steht. Manchmal sind es vernachlässigte, unbenutzte Häuser, die langsam verfallen und kurz vorm Abriss stehen.
Man gewinnt den Eindruck, es handele sich um ein trauriges, melancholisches Land.
Ich habe bereits meine Zugewandtheit zu all den Orten, die ich besucht habe, erwähnt. Die spiegelt sich auch in dem warmen Grundton der Fotografien im Buch wider. Zugleich ist es mir wichtig, dass der Stolz der Orte oder der Humor mancher Situationen in den Bildern erhalten geblieben sind. Aber es überwiegen Stille und Leere in den Bildern als Momente des Abschieds …
Abschied wovon?
Vielleicht von der erinnerten Lebendigkeit und Fülle des Industriezeitalters. In zahlreichen Interviews, die ich 2023 für eine weitere Arbeit mit Bewohner*innen eines Ortes im Mansfelder Land führte, klang immer wieder durch, unabhängig von der Altersgruppe, dass früher alles besser gewesen sei. Natürlich wird anerkannt, dass sich die Gesellschaft weiterentwickelt hat und dass das auch gut so ist. Dem entgegen steht die Sorge um Veränderungen.
Stephanie Kiwitt, Jahrgang 1972, ist Fotografin und Professorin für Kommunikationsdesign und Fotografie an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. Ihr Fotoband »Flächenland« ist eine Reise in den ländlichen Raum in Sachsen-Anhalt, dessen Umgestaltung bis heute andauert. In einem beigelegten Textheft erörtern Jonathan Everts und Daniel Herrmann das Verhältnis von urbanen Ballungsräumen und ländlichem Leben in Sachsen-Anhalt.
Warum haben Sie Ihr Buch »Flächenland« genannt?
Der Begriff kommt aus der Verwaltungssprache. Er grenzt die Stadtstaaten von den Flächenländern ab. Ich benutze diesen Begriff jedoch als Bild: Sachsen-Anhalt ist von großen Flächen und räumlichen Abständen geprägt und zugleich stark zersiedelt. Der größte Teil der Bevölkerung lebt im ländlichen Raum, in Kleinstädten und Dörfern. Es gibt mit Magdeburg, Halle und Dessau nur drei Großstädte.
Die größeren Städte kommen kaum vor. Von Halle sind nur Aufnahmen eines Friedhofs zu sehen, mit einer Figurengruppe aus den 80er Jahren.
Halle war ja immer der Ausgangspunkt für meine Fahrten. Der Blick auf meine Umgebung hier war mir schon bald ein vertrauter. Mich hingegen interessierte, was mir noch unbekannt war. So sind meine Bilder in gewisser Weise Reisefotografien. Allerdings geht es mir nicht um touristische Repräsentation, sondern um Bilder von Orten und Details, die gewöhnlich keine Beachtung finden. In ihrer Menge, es sind ja fast 500 Fotografien, machen sie das Buch zu einer Einladung an dessen Betrachter*innen, sich beim Durchschauen selbst auf die Reise durchs Flächenland zu begeben.
Magdeburg kommt nur als Himmel vor, voller Zugvögel.
Genau, die Großstädte sind dem Flächenland untergeordnet. In der Magdeburg-Sequenz sieht man im Anschnitt an einem unteren Bildrand ein Straßenschild, das auf den Breiten Weg verweist, eine sehr bedeutende Straße in Magdeburg. Es gab hier im Krieg große Schäden. Ein anderes Bild der Sequenz zeigt das Modell der zerstörten Nikolaikirche. Die vielen Stare am Himmel gaben ein eindrückliches Bild. Vor dem Hintergrund der großflächigen Zerstörung Magdeburgs im Zweiten Weltkrieg erinnerten sie mich im Moment der Aufnahme an Kriegsflugzeuge. Später, bei der Betrachtung der Bilder des Vogelschwarms musste ich aber auch an Wegziehen und Wiederkommen denken.
Für mich war »Flächenland« die erste künstlerische Arbeit, die ein so ausführliches Bild der heutigen Region zeichnet. Gab es künstlerische oder literarische Werke, die Ihnen bei der Erkundung der Region geholfen haben?
Ich habe vor allem die Lokalzeitung gelesen. Manche Artikel oder Bilder, auch Leser*innenfotos, haben mich tatsächlich zu der einen oder anderen Reise inspiriert – Mitteilungen über eine archäologische Ausgrabung in Hackpfüffel, über den Protest von Händler*innen in Köthen oder die Rezension des Romans »Zone C« von Sebastian Caspar, dessen Handlung innerhalb der Crystal-Meth-Szene in Weißenfels spielt. Lediglich der Protest in Köthen kommt dann noch im Buch vor.
Wie ist es mit älteren Werken?
Im ersten seiner Tagebücher schreibt Einar Schleef, der in Sangerhausen seine Kindheit und Jugend verbrachte, von Ausflügen, zum Beispiel nach Leuna, um sich im Kulturhaus Kunst anzuschauen. Das war für ihn recht beschwerlich, da der Personennahverkehr nicht so gut funktionierte. Ich selbst bin dann mit dem Auto dorthin gefahren.
Haben Sie das Kulturhaus gefunden?
Ja, aber es war geschlossen. Das kann mit der Pandemie zu tun gehabt haben. Es ist heute ein Kongresszentrum, es finden da wohl auch noch Ausstellungen statt. In meinem Buch gibt es eine längere Bildstrecke, die während dieses Ausflugs entstanden ist. Es ist Winter, man sieht eine geschlossene Spielothek, dann in einer Sequenz ein junges Paar, das an einer Mauer der Leunawerke entlangläuft.
Das Kulturzentrum zeigen Sie nicht, aber es hat Sie zu diesem Paar an der Mauer geführt. Für das Buch scheinen mir diese Bilder besonders, weil nur sehr selten Menschen auf Ihren Bildern zu sehen sind. Hat das mit der Pandemie zu tun, der Zeit, als die Fotos aufgenommen wurden?
Die Pandemie spielt, abgesehen von einem Bild mit der Parole »Wir sind Andersdenkende«, keine Rolle im Buch. Die Straßen und Plätze sind auch unter normalen Umständen recht leer. Die Menschen arbeiten ja tagsüber zumeist woanders. Auch wenn die Menschen in meinen Fotos nur am Rand auftauchen, so sind sie jedoch in jedem Bild präsent, und zwar in den Häusern, Denkmälern und gebauten Landschaften. Ihre Abwesenheit und die Spuren, die sie hinterlassen haben, erzählen von Veränderung, von nicht mehr stattfindenden Aktivitäten. Viele der kleinen Häuser oder Läden in den alten Ortskernen werden nicht mehr benutzt, da die Bauweise total veraltet ist oder die Hauptstraße zur Durchgangsstraße für den Fernverkehr wurde.
Ihre Bilder entsprechen so der Situation, weil es tatsächlich einen Überhang von Bauwerken und Raum gegenüber den Menschen gibt?
Ja, das ist für Sachsen-Anhalt charakteristisch, und zwar jenseits der Städte. In den vielen kleinen Ortschaften leben vor allem alte Menschen. Man baut für sie gerade Altenheime, es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis selbst diese wieder leer sein werden.
Wenn man das Buch durchblättert, gewinnt man den Eindruck, es wäre in den letzten Jahren insgesamt wenig gebaut worden. Vereinzelt sieht man mittelalterliche Kirchen und Fachwerkhäuser, vor allem aber sieht man Häuser, die während der Gründerzeit oder in der DDR gebaut wurden. Man sieht neoklassizistische Giebel und Stahlbeton. Aus der Nachwendezeit scheinen nur wenige Bauten zu stammen.
Das stimmt. Neue Wohnhäuser werden an der Peripherie der Orte gebaut. Ich habe mich für die Ortszentren interessiert. Diese sind zwar einige Hundert Jahre alt, aber dennoch wesentlich geprägt von der industriellen Boomzeit, etwa zwischen 1870 und 1970. Vor allem an ihnen sieht man die Veränderungen der Gesellschaft. Die kleinen Ortskerne bestehen aus Überbleibseln aus der Hochzeit der Industrialisierung. Man sieht heute zugemauerte Ladengeschäfte, deren Leerstand nicht nur auf einen Bevölkerungsrückgang zurückzuführen ist, sondern auch auf ein verändertes Einkaufsverhalten. Die Leute sind anders unterwegs – dank Auto sind sie mobil und fahren raus zu den großen Einkaufszentren, und neuerdings shoppen sie online.
Sind junge Menschen in den Straßen präsent?
Ja. Das schon angesprochene Paar, das entlang einer Mauer spaziert; und auf der letzten Doppelseite im Buch sind Kinder auf dem Heimweg von der Schule zu sehen. Aber Menschen tauchen in den Bildern meist nur indirekt auf.
Ist so etwas wie Jugendkultur im öffentlichen Raum sichtbar?
Zusammen mit Studierenden haben wir im Frühling 2023 einen Workshop im Mansfelder Land gemacht, in dem wir intensiv mit Jugendlichen ins Gespräch gekommen sind. Da wurde deutlich: Es gibt viel zu wenig Orte für Jugendliche im ländlichen Raum. Man trifft sich auf Spielplätzen, an Haltestellen oder Bahnhöfen. In manchen Städten gibt es auch Jugendklubs. Im Buch zeige ich Bushaltestellen mit Graffiti.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Sind das politische Äußerungen?
Nur teilweise. In Zeitz steht neben einem an die Wand gemalten Teddybären »Meth ist gut«. In Hettstedt hat jemand »Volkstod stoppen!« an eine Mauer geschrieben. Das ist natürlich politisch, kann aber auch von Erwachsenen geschrieben worden sein.
Welche politischen Äußerungen sind Ihnen sonst noch im öffentlichen Raum begegnet?
Ich habe nicht alles fotografiert, was ich gesehen habe. In Calbe war mir ein Plakat für eine Rückkehrermesse wichtig: »Warum gehen, wenn man auch daheim sein kann?« Eine direkte Bezugnahme auf den Bevölkerungsrückgang im Land. In Köthen habe ich die Protestaktion des Einzelhandels gegen die Corona-Maßnahmen dokumentiert: eine Ladenzeile, in der die Inhaber*innen ihre Schaufenster mit Zeitungen zugeklebt haben. Sie machten so auf den ohnehin hohen Leerstand in Köthen aufmerksam, aus Sorge, dass auch die letzten Läden schließen müssen. Besonders irritierend fand ich eine Szene aus Polleben: Direkt hinter einem Thälmann-Denkmal war an einem Tor eine Reichsbürgerplakette angebracht. Als Ergebnis des Bruchs zu Beginn der 90er Jahre und neuerer struktureller Veränderungen überlappen sich hier, wie an weiteren Orten, politische Zeichen aus unterschiedlichen Zeiten.
Stephanie Kiwitt: Flächenland (2020–2022). Mit einem Textheft von Jonathan Everts und Daniel Herrmann. Spector Books, 464 S., geb., 48 €.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.