»Wir sollten alle an einem Strang für die Gesundheit ziehen«

Ein Expertengespräch über Long Covid und die Frage: Haben wir das Virus richtig verstanden?

  • Interview: Mirco Drewes
  • Lesedauer: 7 Min.
Auch im Sommer 2024 gehen wieder neue Varianten des Coronavirus Sars-CoV-2 um.
Auch im Sommer 2024 gehen wieder neue Varianten des Coronavirus Sars-CoV-2 um.

Europa befindet sich in einer großen Corona-Infektionswelle mit neuen Varianten. In den Medien wird meist Entwarnung gegeben, allenfalls »Risikogruppen« sollen sich schützen. Ist dieser Optimismus angebracht?

Aus Sicht der Akutversorgung, der Sorge um Überlastung der Intensivstationen, ist das angebracht. Schwere Formen der Pneumonie oder Langzeitbeatmung sehen wir nicht mehr so oft. Nahezu alle Menschen haben Infektionen hinter sich oder sind geimpft und im akuten Verlauf gut geschützt. Anders sieht es aus, wenn man die Auswirkungen, auch milder, Reinfektionen auf Long- oder Post-Covid-Beschwerden betrachtet. Das Risiko, bei einer Covid-19-Erkrankung Long Covid zu entwickeln, bleibt und es erhöht sich mit jeder Infektion. Auch wenn die Long-Covid-Raten pro Infektion inzwischen niedriger sind als vor Entwicklung der Impfstoffe und der Omikron-Varianten, haben wir bei so hohen Infektionszahlen wie momentan ein großes Risiko, viele neue Post-Covid-Fälle zu entwickeln. Bei bestehender Post-Covid-Erkrankung droht eine Verschlechterung des Zustands.

Wie groß ist aktuell das Risiko, bei einer neuen Infektion Long Covid zu entwickeln?

In der Leitliniengruppe gehen wir nach dem internationalen Stand der Daten von fünf bis zehn Prozent aus, und damit ist es beileibe keine seltene Erkrankung. Dass Long Covid weiterhin eine Gefahr bleibt, hängt wahrscheinlich mit dem Pathomechanismus, das heißt, den krankheitsauslösenden Prozessen von Covid-19 zusammen. Der ACE-2-Rezeptor, an den das Virus andockt, sitzt nahezu überall im Körper.

Müsste seitens der Politik bessere Aufklärungsarbeit geleistet werden?

Die langfristigen gesundheitlichen Folgen für die Menschen müssten vielmehr berücksichtigt werden. Es gibt inzwischen ein großes sozialmedizinisches Problem durch die lange Erkrankungsdauer mancher Patientengruppen: Wie soll Reintegration in den Arbeitsmarkt gelingen? Es gibt riesigen Beratungsbedarf zu Fragen der Erwerbsunfähigkeitsrente oder Langfristkrankschreibungen, zu Rehabilitationsverfahren – das sind Fragen, die einer politischen Klärung bedürfen.

Welche Gruppen weisen ein besonderes Risiko auf, an Long Covid zu erkranken?

Wir haben den Eindruck, dass mehr Frauen betroffen sind als Männer und jüngere Menschen häufiger als alte. Aber belastbare Daten gibt es nicht. Das liegt auch am fehlenden Bewusstsein für postakute Erkrankungssyndrome, es gibt kein Register dafür. Selbst für die schwerste Ausprägung, für Myalgische Enzephalomyelitis / das Chronische Fatigue Syndrom (ME/CFS), wissen wir nicht, wie viele Betroffene es gibt. Grundsätzlich kann Long Covid jeden treffen.

Interview

Dr. Christian Gogoll ist Vorsitzender des Long-Covid-Netzwerks der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin, Experte der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V. und Ko-Autor des Expertenleitfadens für die ärztliche Praxis »Post-Covid / Long-Covid«. Zudem ist Dr. Gogoll Oberarzt an der Evangelischen Lungenklinik Berlin.

Wie häufig sind Kinder betroffen?

Es scheint, dass Kinder weniger häufig betroffen sind als junge Erwachsene, aber auch dazu gibt es keine verlässlichen Zahlen.

Werden Kinder womöglich in der Äußerung von Beschwerden wenig ernst genommen?

Ja, aber nicht nur die Kinder. Wir hören von Patienten immer wieder, dass die Hausärzte sie nicht ernst nehmen. Solange es keinen eindeutigen, anerkannten Biomarker gibt, ist es in der Diagnostik besonders wichtig, den Patienten zuzuhören. Einige postakute Beschwerden lassen sich objektivieren, andere nicht.

Long Covid ist kein klar definiertes Krankheitsbild, sondern ein Oberbegriff über fortdauernde Beschwerden nach einer Sars-CoV-2-Infektion. Welche Symptome stehen im Vordergrund?

Übersichtsarbeiten beschreiben bis zu 200 Symptome. Wir sehen am häufigsten Patienten mit manifesten körperlichen Beschwerden wie Herzrasen oder Husten, teilweise mit Röntgenbildveränderung, Organschäden durch Infektion.
Und dann sehen wir in der Lungenheilkunde häufig Patienten, die funktionelle Beschwerden haben, schlecht Luft bekommen, obwohl alle anderen Befunde normal sind. Daneben gibt es Fatiguebeschwerden, das Erschöpfungssyndrom. Manche Patienten weisen vegetative Regulationsstörungen auf wie Schwindel nach Lageänderung, Durchblutungsprobleme an den Gefäßen, die sich plötzlich weit stellen. Und es gibt neurologische Beschwerden wie Konzentrationsstörungen oder Schlafstörungen.

Wie bewerten Sie den Stand der symptomatischen Behandlungsoptionen? Und besteht Aussicht auf eine kausale Therapie?

Die Symptome können wir zum Teil ganz gut behandeln. Und zum Teil gar nicht. Es gibt einige Hoffnungsträger in der Forschung. Aber den einen Wirkmechanismus, das eine Medikament für alle Patienten, daran glaube ich nicht. Meine Hoffnung ist, dass wir im Jahr 2030 auf diese Pandemie zurückschauen und sagen werden, dass wir verstanden haben, wie postakute Infektionssyndrome funktionieren, und Biomarker haben, egal wie abgefahren die sein mögen, die die Beschwerden der Patienten erklären und auch den Hausärzten helfen zu diagnostizieren.

Während Covid-19 in den Medien oft als grippaler Atemwegsinfekt behandelt wird, diskutiert die Wissenschaft eine systemische Gefäßkrankheit, die alle Organe betreffen kann. Haben wir das Virus überhaupt richtig begriffen?

Ich denke nicht, auch weil wir es in der Medizin selbst schlecht begriffen haben. Dass ein Atemwegsvirus eine Ganzkörperentzündung oder hochspezifische Prozesse auslösen kann, ist in der Forschung klar, aber noch nicht ausreichend kommuniziert. Covid-19 ist eine gerinnungsaktivierende Erkrankung, die besondere Formen von Autoimmunprozessen auslöst, wie wir sie vom Willebrand-Jürgens-Syndrom kennen, wenn das Blut in den kleinsten Gefäßen plötzlich gerinnt. Solange der Pathomechanismus nicht vollständig geklärt ist, ist es sehr sinnvoll, Covid-19 im Kontext von HIV, Dengue, hämorrhagischen Viren oder dem West-Nil-Fieber zu betrachten, die ebenfalls Veränderungen am gesamten Körper auslösen können.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Inzwischen wurden für fast alle Organsysteme Schädigungen nach Covid-19 nachgewiesen, die auf ein erhöhtes Krebsrisiko schließen lassen. Werden wir in den kommenden Jahren eine Krebs-Epidemie erleben?

Das wissen wir nicht. Wichtig ist, dass wir unter dieser Fragestellung die großen Kohorten beobachten und unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz bestimmte Cluster von Post-Covid-Patienten ermitteln, die einer besonderen Nachsorge bedürfen. Von chronischen Entzündungsprozessen, wie sie bei Post-Covid ausgelöst werden, wissen wir beispielsweise von Rheumapatienten, dass diese eine wichtige Rolle bei der Tumorentstehung spielen. Wir haben Einzelberichte von Tumorzentren über einen Anstieg von Lymphomen, Magenkrebs, Brustkrebs und Krebs im Mund-Nasen-Bereich. Wir müssen genau beobachten, ob das lokale Schwankungen sind, beispielsweise durch versäumte Screenings in den letzten Jahren, oder sich ein anhaltender Trend zeigt. Besonders die Reaktivierung von karzinogenen Epstein-Barr-Virus- und Hepatitis-6-Infektionen durch Covid-19 gibt zu denken.

Es scheint an Problembewusstsein zu fehlen. Die »Patientenleitlinie Long-/Post-Covid-Syndrom« empfiehlt bei Infektion nach individuellem Risikoprofil den Einsatz antiviraler Therapie und von Gerinnungshemmern, ärztliche Nachsorge nach der Akutphase, die Sportmedizin erweiterte Karenz. In der Realität wird häufig nicht mal der Erreger nachgewiesen.

Wir bräuchten ein viel ernsthafteres Monitoring. Wir haben es mit einer neuen, weitverbreiteten Viruserkrankung zu tun, die nicht selten chronische Verläufe nimmt. Es muss eben klar sein, wie wichtig es im Falle eines Atemwegsinfektes ist zu klären, ob es sich beispielsweise um einen Rhinovirusinfekt, Grippe oder RSV handelt – oder doch um Covid-19, das eben auch häufig Bauchbeschwerden macht. Mit einfachen Maßnahmen wie die Viruslast senkenden Medikamenten, Isolation und dem Tragen eines Mundschutzes kann die Weiterverbreitung von Covid-19 verhindert werden. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wäre viel stärker gefordert, wirksam darüber aufzuklären, dass postakute Krankheitsverläufe schwer sein und einen großen Verlust an sozialer Teilhabe bedeuten können.

Welches Leben mit dem Virus wünschen Sie sich?

Die Politik darf die schwer an ME/CFS Erkrankten nicht hängen lassen. In der Medizin sollten wir postakute Syndrome ernster nehmen und entsprechende Fortbildungsanreize schaffen, denn durch den Klimawandel werden sich neue Viren bei uns ausbreiten und wir werden weitere Pandemien erleben. Offener Umgang mit den Patienten, die sich teilweise in Selbsthilfegruppen organisieren, exzellent auskennen und uns Ärzten wertvollen Input geben können, wäre wünschenswert. Wir sollten für die Gesundheit alle an einem Strang ziehen. Schwarmintelligenz zu nutzen, kann auch lehrreich für das ärztliche Selbstbild sein. Verdienst der Medien wäre es, kontinuierlich, sachlich und niederschwellig über das Infektionsgeschehen zu informieren, beispielsweise, indem man die Virusdaten aus dem Abwasser in ein Ampelsystem für die Bevölkerung übersetzt. Als Gesellschaft sollten wir den Mut aufbringen, über chronische Erkrankungen wie beispielsweise Post-Covid und Belastungsgrenzen zu sprechen. Volkswirtschaftlich betrachtet ist Prävention zudem wesentlich günstiger als keine Prävention. Auch über den Einsatz von Luftfiltern in öffentlichen Räumen wäre nachzudenken.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.