Offensive in Kursk: Riskanter Einsatz mit nuklearem Faktor

Nach der ukrainischen Offensive beschuldigen sich Moskau und Kiew gegenseitig, Atomkraftwerke in Gefahr zu bringen

  • Daniel Säwert
  • Lesedauer: 4 Min.
Nach dem Brand im AKW Saporischschja hat die Atombehörde IAEA Russland und die Ukraine zur Zurückhaltung aufgerufen.
Nach dem Brand im AKW Saporischschja hat die Atombehörde IAEA Russland und die Ukraine zur Zurückhaltung aufgerufen.

Die Bilder, die am Sonntag aus der Ostukraine kamen, ließen Schlimmes befürchten. Die von Präsident Wolodymyr Selenskyj verbreiteten Aufnahmen eines brennenden Kühlturms in Europas größtem Atomkraftwerk Saporischschja schürten erneut die Befürchtungen eines nuklearen Unfalls im von Russland besetzten AKW.

Bereits kurz nach Bekanntwerden des Brandes begannen die gegenseitigen Schuldzuweisungen. Von russischer Seite hieß es, eine ukrainische Kampfdrohne habe erhebliche Schäden an der Infrastruktur des AKW verursacht. Gefahr habe aber nicht bestanden, erklärte der russische Gouverneur der Region, Jewgenij Balizkij, da alle Blöcke des AKW abgeschaltet seien. Die Strahlungswerte seien im normalen Bereich. Am Montag teilte Balizkij mit, die Sicherheitsvorkehrungen an allen Anlagen von strategischer Bedeutung in der Region seien auf Anordnung von Kreml-Chef Wladimir Putin erhöht worden.

Gegenseitige Schuldzuweisungen

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wiederum warf Russland vor, Feuer in dem AKW gelegt zu haben, und forderte eine Reaktion der Atombehörde IAEA. Deren Generaldirektor Rafael Grossi teilte mit, dass der Vorfall keine Auswirkungen auf die Sicherheit der Anlage habe, und forderte ein Ende der »rücksichtslosen Angriffe« auf das AKW. Auch Litauen gab Entwarnung. Für die Einwohner des baltischen Landes bestehe »kein Grund zur Sorge«, schrieb das Zentrum für radioaktive Sicherheit auf Facebook.

Nach dem überraschenden Einmarsch ukrainischer Truppen in das russische Gebiet Kursk vergangene Woche geriet das dortige AKW in den Fokus, das zu großen Teilen dem Katastrophenkraftwerk in Tschernobyl gleicht. Russland hatte vor einigen Tagen behauptet, Teile ukrainischer Geschosse in Kraftwerksnähe gefunden zu haben. Mehreren russischen Quellen zufolge haben die Behörden bisher jedoch nichts unternommen, um das AKW zu schützen.

Dass die Ukraine das AKW erobern will, scheint unrealistisch, zumal die Truppen noch 50 Kilometer entfernt sind. Dafür besetzen ukrainische Soldaten eine wichtige Verteilerstation für den Gastransit nach Europa. Satellitenbilder deuten an, dass diese bereits zerstört sein könnte. Gut möglich, dass Kiew so Druck auf westliche Länder aufbauen will, die nicht komplett auf ukrainischer Linie sind.

Selenskyj hat zur Offensive gedrängt

Welches Ziel die Ukraine mit dem Einmarsch in Russland verfolgt, bleibt im Detail weiter unklar. Selenskyj soll, so schreibt die »Times«, seine Generäle monatelang zur Offensive gedrängt haben. Die hätten aber wegen des Mangels an Soldaten und Ressourcen gezögert. Für Selenskyj ist der Angriffsbefehl die riskanteste Entscheidung seit Kriegsbeginn, hat er damit doch nicht nur Moskau, sondern auch die westlichen Verbündeten auf dem kalten Fuß erwischt, die diese Aktion kaum gutheißen dürften. Aus Washington hieß es mittlerweile, dass man zumindest keine Einwände habe, wohl auch, weil es mittlerweile zu spät ist.

Knapp eine Woche nach der Offensive scheint Selenskyj aus seiner Sicht zumindest oberflächlich recht zu behalten. Russlands Armee wirkt derzeit nicht so, als könnte sie die Ukrainer schnell zurückdrängen. Vielmehr graben sich die Ukrainer auf russischem Gebiet ein. Am Montag musste der Gouverneur der Region Kursk, Alexej Smirnow, beim Rapport vor Präsident Wladimir Putin eingestehen, dass die ukrainische Armee bereits 28 Ortschaften eingenommen hat. Insgesamt seien bereits 121 000 Menschen aus der Region evakuiert worden, weitere 60 000 sollen folgen. Auch aus der Nachbarregion Belgorod seien bereits 11 000 Menschen in Sicherheit gebracht worden, schrieb Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow auf Telegram.

Riskanter Plan für die Ukraine

Dass Selenskyjs Rechnung, die Front im Donbass zu entlasten und eine bessere Ausgangsposition für mögliche Friedensgespräche zu schaffen, aufgeht, ist nicht ausgemacht. Russlands Armee ist zwar gezwungen, Truppen zu verlegen, doch sie kommen mehrheitlich aus der Region Charkiw, wo Moskau selbst erst vor wenigen Wochen eine mittlerweile stockende Offensive gestartet hat. Hinzu kommt, dass sich Kiew eine noch längere Frontlinie eigentlich nicht leisten kann. »Ihre Kommandeure sind keine Idioten. Sie verlegen Kräfte, aber nicht so schnell, wie wir es gerne hätten. Sie wissen, dass wir unsere Logistik nicht auf 80 oder 100 Kilometer ausdehnen können«, zitiert der »Economist« eine Quelle aus dem ukrainischen Generalstab.

Als Risiko könnten sich auch die eingesetzten Soldaten in Kursk entpuppen. Sie sollen nach ukrainischen Angaben die besten und kampferprobtesten des Landes sein. Allerdings fehlen sie nun im Donbass, wo die russische Armee in den vergangenen Tagen sogar an mehreren Orten vorrücken konnte und sich weiter auf eine wichtige ukrainische Versorgungsroute zubewegt. Die Freude, die in der Ukraine über den gelungenen Coup ausgebrochen ist, könnte bald wieder verstummen.

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