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Wenn die einsame Spitze gebrochen wird
»Eine Gefahr für die Demokratie«: Wie Amtsinhaber in sächsischen Kommunen systematisch kaputtgespielt werden
Torsten Pötzsch wurde oft gefragt, woher er die Kraft für sein Amt nimmt. Der 53-Jährige ist Oberbürgermeister von Weißwasser, einer Stadt in der Lausitz, die mit dramatischen Veränderungen klarkommen muss. Die Glasindustrie, deren Zentrum sie in der DDR war, brach ab 1990 zusammen. Die Braunkohle, die ebenfalls viele Jobs bot, geht gerade; bis 2038 wird die Förderung eingestellt. Viele Menschen kehrten Weißwasser den Rücken; von einst fast 38 000 Bewohnern blieben weniger als 16 000. Es ist eine Entwicklung, die manchem Anlass zu Klage und Resignation geben würde. Pötzsch aber betonte stets die Chancen. Den Stadtumbau ging der parteilose Politiker ebenso forsch an wie den Strukturwandel im Kohlerevier. Seine Stadt, sagte er, brauche »Motivation, eine neue Identität, ein neues Lebensgefühl«.
Woher nahm Pötzsch selbst die Motivation, sich dem Abwärtsstrudel so scheinbar unbeirrt und zuversichtlich entgegenzustemmen? Er antwortete auf die Frage stets mit einem Foto. Darauf zu sehen waren seine Lebensgefährtin und ihre beiden gemeinsamen Kinder. Die Familie, sagte er stets, sei sein »Kraftquell«.
Der Quell ist versiegt – was, wie Pötzsch berichtet, das Ergebnis jahrelangen und systematischen Störfeuers von außen war. Immer wieder seien Gerüchte über sein Privatleben gestreut worden. Teils kursierten konkrete Namen von Rathausbeschäftigten, mit denen ihm eine Affäre angedichtet wurde. »Damit zermürbt man die Mitarbeiter und die Familie«, sagt Pötzsch. In diesem Sommer entfaltete das Gift seine Wirkung; seine Partnerin trennte sich von ihm. Pötzsch, der zuvor in 13 Amtsjahren kaum krankheitsbedingt gefehlt hatte und viel Sport trieb, erlitt einen Bandscheibenvorfall, musste operiert werden und wird, wie er sagt, bleibende Schäden davontragen.
Pötzsch hatte nicht nur mit Gerüchten über sein Privatleben zu kämpfen. Als er vor einigen Jahren gegen ein rechtes Jugendzentrum in der Stadt vorging, seien die Radmuttern an seinem Auto gelockert worden. In den sozialen Netzwerken seien »massive Falschaussagen« gestreut worden, etwa über eine Bevorzugung bestimmter Firmen durch die Verwaltung. Die Behauptungen konnten widerlegt werden, die Unternehmen hätten sich als Konsequenz trotzdem aus der Förderung gemeinnütziger Zwecke zurückgezogen, bedauert Pötzsch. Auch in Briefen und Kurznachrichten sei er immer wieder angefeindet worden, bis hin zu offenen Morddrohungen. »Da stand dann, solche wie mich hätte man vor 90 Jahren zur Guillotine geführt«, sagt der Rathauschef und fügt an, das sei »fast Tagesgeschäft« gewesen. Die Vorfälle anzuzeigen, hat er mittlerweile aufgegeben: »Mit den Einstellungsbescheiden der Polizei könnte ich ganze Wände tapezieren.«
Als Pötzsch dieser Tage bei einem Treffen mit Amtskollegen seine Erlebnisse schildert, ringt Martina Angermann mit den Tränen: »Da kommen viele Emotionen wieder hoch«, sagt die SPD-Politikerin. Sie war viele Jahre Rathauschefin in Arnsdorf bei Dresden, bevor auch sie systematisch kaputtgespielt wurde. An die Anfänge kann sie sich noch genau erinnern. 2012 seien an prominenten Gebäuden im Ort Transparente aufgetaucht. Der beste Platz für einen Bürgermeister, hieß es dort, seien Wahlplakate: »geräuschlos und leicht zu entfernen.«
Angermann sagt, sie habe die Äußerungen zunächst nicht auf sich bezogen und auch nicht die dahinter stehende Strategie erkannt. Dass die Arbeit und das Engagement von kommunalen Amtsträgern gezielt untergraben werden könnte, habe sie sich nicht vorstellen können: »Wir sind doch angetreten, um etwas zu schaffen, und haben nie auf uns und unsere Zeit geschaut.« Dann aber häuften sich Dienstaufsichtsbeschwerden bei der Kommunalaufsicht. Zweifel wurden gestreut: formal an der Gültigkeit von Satzungen, faktisch aber an der Kompetenz der Rathausspitze. »Mitarbeiter wurden mürbe, Bürger begannen zu zweifeln«, sagt sie: »Man schürte den Eindruck: Das sind alles Stümper.«
Endgültig eskalierte die Lage im Jahr 2015, als in einem Arnsdorfer Discounter ein Flüchtling, der in der örtlichen psychiatrischen Heilanstalt behandelt wurde, Probleme beim Bezahlen einer Telefonkarte hatte. Er wurde von einer selbst ernannten »Bürgerwehr« überwältigt. Der Vorfall spaltete den Ort. Angermann, die sich in der Sache klar positioniert hatte, fühlte sich zunehmend bedroht. Ein örtlicher AfD-Politiker hatte erklärt, er besitze Kampfhunde und eine Armbrust; immer mehr Bürger beantragten Waffenscheine. Wenn sie im Winter abends allein in ihrem Dienstzimmer gesessen hat, sei »das Kopfkino« losgegangen. Sie wurde krank, bekam Angstzustände, lag zwei Monate im Krankenhaus. 2019 gab sie ihr Amt auf.
Arnsdorf erschien damals vielen noch als ein besonders krasser Fall. Der Übergriff auf den Flüchtling lenkte bundesweite Aufmerksamkeit auf den Ort. Der Prozess gegen Mitglieder der »Bürgerwehr« wurde von Pegida und AfD zum Symbol für den Umgang mit »Zuwanderungskritikern« stilisiert; der heutige AfD-Europaabgeordnete Maximilian Krah sei als Verteidiger aufgetreten, erinnert sich Angermann.
Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.
Inzwischen aber ist Arnsdorf überall, auch in Orten, die bis vor kurzem noch als Vorzeigegemeinden gegolten hatten. Nebelschütz etwa wurde 2008 mit dem Europäischen Dorferneuerungspreis ausgezeichnet, sagt Thomas Zschornak (CDU), der in dem sorbischen Dorf 32 Jahre lang Bürgermeister war. Journalisten gaben sich bei ihm die Klinke in die Hand, weil es der Ort schaffte, dem Trend zur Abwanderung zu trotzen und Familien mit Kindern anzuziehen. In Artikeln war die Rede von einem »Dorf, das vieles anders macht«. Das galt auch für den Gemeinderat, sagt Zschornak: »Bis vor fünf Jahren fassten wir 90 Prozent aller Beschlüsse einstimmig.«
Dann wurde ein neuer Rat gewählt, und es sei »lauter und lauter« geworden, sagt Zschornak, der auch als Verwaltungschef unter Druck geriet. Mehr als 30 Dienstaufsichtsbeschwerden seien gegen ihn eingereicht worden, meist anonym. Er musste »im Keller uralte Akten heraussuchen«, um sie zu entkräften. Es gab eine Anzeige von Unbekannt gegen ihn wegen eines vermeintlichen Schwarzbaus. Auch Zschornak wurde krank: »Ich konnte nicht mehr laufen.« Er zog sich aus dem Amt zurück. Das einstige Musterdorf, sagt er, sei »auseinander gebrochen«.
In Leitartikeln und Analysen ist derzeit viel davon die Rede, dass die Gesellschaft gespalten, die Demokratie in einem schwierigen Zustand sei. Oft klingen die Befunde eher abstrakt. In sächsischen Kommunen lässt sich hautnah erleben, was es bedeutet, wenn Gemeinsinn durch Gegeneinander ersetzt wird, wenn Missgunst und Misstrauen um sich greifen und engagierte Menschen gezielt zermürbt werden. Petra Köpping (SPD), die in Sachsens Staatsregierung das auch für »gesellschaftlichen Zusammenhalt« zuständige Sozialministerium führt, beobachtet eine spürbare Veränderung der Gesellschaft. Mittlerweile, sagt sie, habe »fast jedes Thema das Zeug zur Polarisierung«: Windräder, Solarparks, Gewerbegebiete. Im Zentrum der erbitterten Kontroversen stehen Bürgermeister: Menschen, die Köpping in Anspielung auf ein Lied von Gerhard Gundermann »einsame Spitze« nennt. Der Titel ist ambivalent und verweist darauf, dass es sich bei Rathauschefs nicht nur um sehr fähige Menschen handelt, sondern auch um solche, die im Konfliktfall schnell allein auf weiter Flur stehen.
»Man schürte den Eindruck:Das sind alles Stümper.«
Martina Angermann Ex-Bürgermeisterin
Derzeit häufen sich in Sachsen Fälle, in denen solche »einsamen Spitzen« gebrochen werden. Nicht immer passiert das auf so tragische Weise wie bei Volkmar Schreiter, dem FDP-Bürgermeister von Großschirma im Landkreis Mittelsachsen, der sich Ende 2023 das Leben nahm. Ein Bericht der »Freien Presse« zu den Hintergründen verwies unter anderem auf etliche Dienstaufsichtsbeschwerden, die Schreiters Stellvertreter, der AfD-Politiker Rolf Weigand, gestellt hatte und die dem Rathauschef offenbar schwer zusetzten. Als im März dessen Nachfolger gewählt wurde, siegte Weigand. Die Wahl wurde wegen eines Formfehlers zwar für ungültig erklärt. Bei der Wiederholung am 1. September ist er aber einziger Kandidat.
Für bundesweite Schlagzeilen sorgte kürzlich ein anderer Fall. Dirk Neubauer, einziger sächsischer Landrat ohne CDU-Parteibuch, kündigte seinen Rückzug an, nach nur zwei von sieben Amtsjahren. Zur Begründung verwies er auf Bedrohungen gegen ihn und seine Familie, aber auch die Blockadehaltung der rechten Mehrheit im Kreistag. Er beklagte zudem ausbleibende Solidarisierung in Politik und Gesellschaft: »Ich gebe auf, weil mir da draußen zu viele den Mund halten.« Aus ähnlichen Gründen zieht sich die CDU-Bundestagsabgeordnete Yvonne Magwas aus dem Vogtland aus der Politik zurück. »Es wird gelogen, diskreditiert und gehetzt, die Demokratie und ihre Institutionen werden von AfD, Freien Sachsen, III. Weg, NPD und wie sie alle heißen Tag für Tag und systematisch infrage gestellt mit dem Ziel, sie abzuschaffen«, schrieb sie in einer Erklärung und fügte an: »Wenn unser Land diesen Weg weitergeht, wird es dunkel und kalt – darüber sollten sich mehr Menschen Gedanken machen.«
Die Sorge teilt auch die parteilose Barbara Lüke. Die Juristin wurde 2016 zur Bürgermeisterin von Pulsnitz gewählt, einer knapp 8000 Einwohner zählenden Stadt in Ostsachsen, die für ihre Pfefferkuchen bekannt ist. Wie Neubauer wurde sie im privaten Umfeld bedroht: durch Fackelmärsche mit Hunderten Teilnehmern vor ihrem Haus. Wie Magwas warnt sie vor den Folgen für das Gemeinwesen: »Was gerade passiert, ist eine Gefahr für die Demokratie.« Auch sie berichtet von Dienstaufsichtsbeschwerden, die ihre Verwaltung lähmen, oder von Mitgliedern des Stadtrates, die dessen Arbeit zum Erliegen bringen, indem sie die Geschäftsordnung bis zum Exzess ausreizen. Für noch besorgniserregender aber hält sie eine »antidemokratische« Stimmung, die ihr vielfach bei den Stammtischen begegnet, an denen sie mit Bürgern ins Gespräch zu kommen sucht: »Die Leute sagen, wenn ich gewusst hätte, dass Demokratie so anstrengend ist, hätte ich sie nicht gewollt.« Viele sehnten sich nach einer starken Hand und einer Autoritätsperson, die Entscheidungen ohne lange Debatte treffe.
Lüke warnt denn auch vor der trügerischen Hoffnung, es könne sich bei den Kampagnen gegen Kommunalpolitiker nur um lokale Phänomene handeln, von denen man andernorts verschont bleibe. »Das wird systematisch betrieben«, sagt sie: Man erprobe das Vorgehen in einem Ort und dehnt es dann auf weitere aus. Wer hinter dem »Masterplan« steckt, sagt Lüke nicht. Sie wurde 2023 für eine zweite Amtszeit gewählt und unterliegt als Bürgermeisterin der Neutralitätspflicht. Magwas dagegen prangert offen das zerstörerische Agieren rechter Kreise an – das wirkungsvoll ist: Immer mehr kommunale Amtsträger geben auf. Torsten Pötzsch entschloss sich Anfang Juni, bei der OB-Wahl am 1. September nicht erneut zu kandidieren. Mit den möglichen Konsequenzen hadert er bis heute. Ein AfD-Politiker gilt als aussichtsreicher Anwärter auf seine Nachfolge in Weißwasser. Pötzsch räumt ein: »Wenn wir uns zurückziehen, überlassen wir das Feld den Leuten, die die Demokratie aushebeln wollen.« Den Preis, den es freilich verlangt, sich dem entgegenzustellen – den wollte und konnte er nicht mehr zahlen.
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