- Reise
- Großbritannien
Im walisischen Reich der Pferdegöttin
Die abgelegenen Berge in Nordwales sind der Rückzugsort für die letzten Keltenpferde
Gwyneth, Andy, Brill und Tom genießen ihren Feierabend vor dem »Salutation Inn«. Das alte Gasthaus aus dem 16. Jahrhundert hat einen Wiesenfreisitz mit genügend Platz für die vier Freunde. Zwei davon sind Pferde. Sie zupfen etwas Gras und Klee, während ihre Reiter sich ein Bier genehmigen. In einer Hand das Glas, in der anderen die Leine mit dem Pferd, sitzen sie auf der Bank an einem Tisch.
Für mich gilt dieser friedliche, harmonische Moment als gutes Omen. Bin ich doch nach Wales gekommen, um dessen einsame und menschenleere Landschaften mit wild lebenden Pferden zu erkunden. Die ersten habe ich gesehen, doch leider viel zu kurz und nur von Weitem. Ein Erfolg war dieses Treffen in den Brecon Beacons leider nicht. »Fahr in die Carneddau-Berge! Dort wirst du mehr Glück haben«, empfiehlt Gwyneth. »Und wenn du keine Ponys siehst – herrliche Natur auf jeden Fall«, ermutigt mich auch Andy.
Gesagt, getan. Entlang der wunderschönen Pembrokeshire Coast geht es Richtung Norden. In Conwy will ich übernachten. Die mittelalterliche Hafenstadt gilt als das Tor ins »Land der Adlerberge« im Snowdonia-Nationalpark. Eine seiner Bergketten sind die Carneddau (walisisch für »Die Steinhaufen«, sprich »Karnedai« – das »d« gelispelt wie »th« im Englischen) – ursprüngliche Heimat der Welsh Mountain Ponys. »Wenn du zu denen etwas wissen willst, frag die Jones’ von der Tynllwyfan-Farm«, rät mir der Kneipenwirt vom »Erskine Arms« gleich an der Burg von Conwy. Meine Route für den nächsten Tag steht fest.
Nach einem kurzen Stopp am Strand von Llanfairfechan mit Blick auf das Môr Iwerddon (Irische See) und den Y-Gogarth-Felsen fahre ich landeinwärts und bergauf, wo mich die magischen Carneddau bald gefangen nehmen. Zwischen kantigen Gipfeln fließen sanfte Hügel. Ihre grüne Wiesenhaut durchfurchen grobe Mauern wie die Adern einer Hand. Die rätselhaften Steine darauf gleichen Muttermalen.
Gestaltet wird die uralte Kulturlandschaft auch von frei lebenden Ponys. Mit Maul und Hufen lenken sie den Pflanzenwuchs, verhindern Erosion und schaffen Wege – schon seit Ewigkeiten. Als ein Tsunami vor etwa 7500 Jahren das heutige Großbritannien endgültig vom Festland trennte, wurden auch dessen Wildpferde zu Inselbewohnern. Die ersten domestizierten Pferde tauchten hier vor 4000 Jahren auf. Europaweiten Ruhm erlangten sie als Kriegsrösser und Statustiere der Kelten.
Das Reitervolk, das bis zur Invasion der Römer auf den Inseln lebte, imponierte seinen Feinden mit wilden Auftritten und Pferden, die kleinwüchsig und äußerst wendig waren. Zogen sie die Kämpfenden zunächst samt Wagen nur bis auf das Schlachtfeld, mussten sie sich bald schon selbst mit ins Gemetzel stürzen. Statt Kleidung trugen dabei viele Männer nur die Kriegsbemalung, ritten und kämpften nackt auf bloßen Pferderücken. Die später folgenden Erfindungen der Kelten wie Vierhornsattel sowie Trensen dienten anderen als Vorbild.
In der keltischen Mythologie nahm das Pferd eine zentrale Rolle ein. Man verehrte seine Klugheit, Treue, Schnelligkeit und Stärke, nutzte es als Opfertier und Grabbeigabe für die höchsten Würdenträger. An vielen Orten wurde religiöser Pferdekult betrieben. Zu den bekanntesten gehört Uffington White Horse Hill im englischen Oxfordshire.
Den Hügel mit dem über 100 Meter langen und fast 40 Meter breiten Monumentalbild eines stilisierten Pferdes schufen die Kelten vor rund drei Jahrtausenden. Die tiefen, breiten Linien in dem leuchtend weißen Kreideboden sind bis heute deutlich sichtbar. Höchstwahrscheinlich ist das Werk der Pferdegöttin Rhiannon gewidmet. Rhian Jones, die Pony-Bäuerin, die ich nun treffe, ist nach ihr benannt.
Die Ersten, die mich auf ihrer Farm begrüßen, sind die Schafe – etwas skeptisch und doch neugierig, 4000 insgesamt, wie ich gleich hören werde. Auf saftigen und artenreichen Wiesen hoch über dem Meer führen sie ein Leben, um das sie jedes Stalltier nur beneiden kann. »Den Ponys weiter oben in den Bergen geht es in ihrer Abgeschiedenheit noch besser«, sagt Rhian Jones und befeuert damit meine Vorfreude, sie endlich selbst zu sehen.
Der Hof, auf dem die Frau und ihr Mann Gareth, ihre drei Kinder und die Schwiegereltern zu Hause sind, ist seit 375 Jahren im Besitz der Jones’. Die Familie ist eine der sieben, denen die Carneddau-Ponys gehören – ohne wirtschaftlichen Nutzen. Denn die 220 frei lebenden Tiere sind die letzte echte Wildpferdepopulation im Vereinigten Königreich. Mindestens seit einigen Jahrhunderten lebt die Herde isoliert und aufgeteilt in viele kleine Gruppen in dem ummauerten Gebiet, das mit 55 Quadratkilometern fast so groß ist wie der Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg.
»Die Pferde leben in jeder Hinsicht völlig frei und müssen sich in allen Situationen ihr Futter selber suchen«, erklärt Rhian. »Sie fressen hauptsächlich weiche Binsen, Berg- und Pfeifengräser. Manche Kräuter nutzen sie als Medizin, zum Beispiel zur Entwurmung. Geschickt befreien sie im Winter die schnee- und eisbedeckten Halme oder Blätter mit Lippen und Zähnen.« Insgesamt sei ihre Speisekarte deutlich umfangreicher als die von Hausponys, so die Landwirtin.
Von ihrer rein organischen Ernährung profitiert auch die Tier- und Pflanzenwelt in ihrem Lebensraum. Da sie keine Medikamente bekommen, ist ihr Dung 100-prozentig biologisch. »Er fördert eine gesunde Vegetation und bildet eine wichtige Nahrungsquelle für Würmer und Insekten«, erklärt sie. Und diese wiederum seien Fett- und Eiweißlieferanten für die Alpenkrähe – ein immer seltener werdender schwarzer Vogel mit knallrotem Schnabel und ebenso gefärbten Beinen.
Draußen poltert es. Im Küchentürspalt taucht der Kopf von Bauer Gareth auf. »Ich hole jetzt die Schafe«, sagt er kurz und fragt mich grinsend: »Willst du mit?« Schnell greife ich zur Kamera und renne hinterher. »Stell dich auf die Wegkreuzung, mach deine Arme breit und schrei ein bisschen, wenn sie kommen!«, instruiert er mich und ist schon auf dem Weg zum Gattertor. Erst als sich eine Wolllawine auf mich zubewegt – aus vielen Hundert Kehlen blökend –, begreife ich, dass ich jetzt eine Herde Schafe in die rechte Richtung lotsen soll.
Es klappt. Sie rennen mich nicht um. Sie laufen so, wie sie es sollen. Schließlich ist auch Max dabei und ganz in seinem Element. Bellend jagt der Hütehund, schwarz-weiß gescheckt und mittelgroß, den völlig aufgedrehten Weidetieren hinterher. Per Kabinen-Quad kommt Gareth angeschossen, und ich springe auf. Über Stock und Stein, auf engen, steilen Mauerwegen geht die turbulente Holperfahrt hinauf.
Hinter dem letzten Tor ganz oben auf dem Berg endet unsere Aufgabe. Die Schafe trollen sich auf der unendlich weiten Fläche und sind bald nur noch als kleine weiße Flecken zu sehen. Aber da ist auch ein größerer – und dort ein grauer und ein brauner! Wie Märchenwesen stehen sie am Horizont: drei stolze, wilde und doch anmutige Stuten.
Etwas kleiner als die weitverbreiteten Welsh-Mountain-Ponys, sehen sie diesen doch recht ähnlich. Beide Rassen wurden von den Kelten domestiziert, bevor sie vor langer Zeit wieder verwilderten. »Dank der Isolierung entwickelten sich die Carneddau-Ponys zu einer eigenständigen Rasse«, klärt mich Gareth auf. Untersuchungen hätten ergeben, dass sie sich von ihren gezähmten Verwandten nicht nur äußerlich, sondern auch genetisch deutlich unterscheiden. Der Bauer nennt ein Beispiel: »die angeborene extreme Widerstandskraft gegen Feuchtigkeit und Kälte«.
In dem besonders kalten Winter vor elf Jahren konnte dieser Vorteil allerdings nicht alle Tiere retten. Die schwächsten starben leider. »Das war wirklich bitter, aber eine Entscheidung der Natur. Die Herde war danach gesund wie nie zuvor. Denn die Überlebenden waren die kräftigsten, die wir je gesehen haben. Der Bestand erholte sich in kurzer Zeit«, berichtet Gareth.
Einmal jährlich, im November, werden alle Tiere zusammengetrieben und bekommen einen Gesundheitscheck. Um das Gleichgewicht der Herde zu erhalten, sortiert man sowohl überzählige Hengstfohlen als auch schwache Tiere aus und verkauft sie oder stellt sie Naturschutzgebieten zum Beweiden zur Verfügung – im Durchschnitt etwa 30 Pferde jedes Jahr. Alle anderen werden mittels Haarknoten oder durch ein Kürzen des Pferdeschweifs markiert, bevor man ihnen wieder ihre Freiheit schenkt. »Manch einem Hengst mit langem, unversehrtem Schweif sieht man auf diese Weise an, dass er nie gefangen wurde«, so der Experte.
Von den Aussortierten landeten früher viele als sogenannte Pit-Ponys (Zechen- oder Grubenpferde) in den einst zahlreichen Bergwerken von Wales, wo sie unter Tage schuften mussten. In der Vergangenheit teilten dieses Schicksal viele Pferde kleinerer Rassen. 1878 ergab eine Zählung, dass in ganz Wales 200 000 Pit-Ponys im Einsatz waren. Mit zunehmender Technik wurden es weniger. Die zwei allerletzten gingen schließlich 1999 in den Ruhestand. Etliche der wieder ausgewilderten Tiere sieht man heute vielerorts in Wales, vor allem in den Brecon Beacons.
Die Carneddau hüllen sich in graue Wolken. Wir steigen aus dem Quad und laufen ruhig und ganz langsam auf die drei Ponydamen zu. Sie kommen uns entgegen – ohne Hast, mit sehr viel Würde. Ihre langen Mähnenhaare wehen elegant im Wind. Gareth winkt mir: »Mach dich klein!« Im Nu sind sie bei uns.
Die braune Schimmelstute baut sich direkt vor mir auf und mustert mich. In einer Pfütze kniend, finde ich sie gar nicht mal so klein, sehr cool auf jeden Fall und wunderschön. Gelassen schreitet sie von dannen. Die zwei anderen schlendern so nah an mir vorbei, dass ich ihren Atem spüre. Interessant bin ich wohl nicht, auf jeden Fall jedoch unglaublich glücklich.
- Allgemeine Infos: www.visitwales.com
- Anreise: Zum Beispiel mit Easyjet oder Ryanair von Berlin nach Manchester. Vom Flughafen Manchester sind es 1,5 Autostunden mit dem Bus oder Mietwagen bis Llanfairfechan.
- Unterkunft: Im mittelalterlichen Conwy übernachtet man im alten Kutscherhof gleich an der Burg im »The Erskine Arms« (https://erskinearms.co.uk). Nahe Llandeilo steht das Boutiquehotel »Plough Rhosmaen«. Es hat ein ausgezeichnetes Restaurant und schöne Zimmer mit Landschaftsblick (www.ploughrhosmaen.com).
- Reisezeit: Das wechselhaft maritime Wetter sorgt von Frühjahr bis Herbst für üppig grüne Natur. Bei 18 bis 20 Grad regnet es am wenigsten von Mai bis Juni. Dann sind die Hotels am teuersten.
- Aktivitäten: Individuelle Touren zu den Carneddau-Ponys kann man bei Gareth Jones oder seinem Sohn Shawn buchen (https://tynllwyfan.com).
So ermutigt, buche ich gleich für den nächsten Tag noch eine Tour bei der Familie Jones – mit reichlich Zeit für Fotos. In aller Frühe bringt mich Junior Siôn auf steinbedeckten Wegen in die Nachbarberge. Was dort bei Sonnenschein und blauem Himmel auf mich wartet, ist der Lohn für viel Geduld: wilde Ponys von ganz jungen, süßen Fohlen bis zu imposanten Hengsten – grasend, stehend, liegend, spielend – umgeben nur von Hügeln, Meer und Wattewolken. Die Pferdegöttin hat es wirklich gut mit mir gemeint.
Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde teilweise unterstützt von Visit Wales.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.