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Ist ja nur psychisch
Zur Therapie zu gehen ist einerseits Mode, andererseits fehlen für Bedürftige die Angebote, findet Leo Fischer
Es gibt keine Therapieplätze mehr! Ist das nur eine Klage verwöhnter Großstädter*innen, denen sonst nichts fehlt? Oder Ausdruck eines tiefgreifenden Versorgungsproblems? Das Bedürfnis nach Psychotherapie ist universell geworden: Gleich, was man hat, woran man leidet, immer wird schnell zur Therapie geraten. Wer nicht in Therapie ist, wirkt anrüchig, kränkelnd – als enthalte man der Gesellschaft etwas vor. Nicht zur Therapie zu gehen ist das neue Rauchen – es hat nur Nachteile, schadet allen und gilt als eine rein egoistische Entscheidung.
Gleichzeitig gibt es keine Therapie, für niemand. Jedenfalls nicht als Teil der öffentlichen Vorsorge. Wer mit Krankenschein versucht, eine zu bekommen, erntet nur müdes Lächeln. Lange Wartezeiten auf das Erstgespräch sind mittlerweile eher die Regel statt die Ausnahme – und dann erst beginnt das gegenseitige Abtasten. Ist diese*r Therapierende richtig für mich? Werde ich verstanden? Oder kommen wir nicht auf einen gemeinsamen Nenner? Dieser Prozess kann Jahre dauern. Für Menschen ohne Vermögen oder hohes Einkommen ist er meist nicht zu finanzieren. Ihre Stigmatisierung als »untherapiert« kommt dann zu den vielen klassistischen Zuschreibungen noch hinzu. Wie auch schon im Viktorianismus gilt die Unterschicht psychisch als tendenziell labil, bedrohlich emotional, bedürftig der disziplinierenden Anteilnahme und der gegebenenfalls strengen Kasernierung.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft
Für diejenigen, die sie sich leisten können, ist Therapie oft ein Statussymbol. Schon vier Jahre im Fitnessstudio, drei Jahre Gemüsekiste, zwei Jahre in Therapie – das ist das gute Leben! Ungeachtet ihres Inhalts und der erreichten Fortschritte gilt Therapie an sich als das Gute, als Teil des gehobenen Konsumverhaltens. Gerne wird über die Intensität von Sitzungen gesprochen, von den Emotionen, die zum Vorschein kamen – aber in einem technischen, physiologischen Sinne, so wie die gute Erschöpfung beim Workout. Woher die Therapiebedürftigkeit kommt, warum wir so kaputt und psychisch krank sind, wird selten hinterfragt. Die Symptomkur an den psychischen Zerrüttungen, an denen die schlechte Einrichtung dieser Gesellschaft ein gehobenes Maß Mitschuld hat, individualisiert allzu oft nur das Leid: Wer psychisch krank ist, dessen Kopf muss nur wieder eingerichtet, an die Bedürfnisse der Gesellschaft angepasst werden. So weit, so viktorianisch.
Die Unterversorgung mit Therapieplätzen hat auch eine disziplinierende Komponente. Sie ist seit Jahrzehnten Fakt. Alle zuständigen Stellen hätten sich auf den gestiegenen Bedarf einrichten können, hätten sie es gewollt. Ableismus ist Teil des Denkens auch jener, die für die mentale Gesundheit der Bevölkerung planen: Viel zu oft fungiert »Ist ja nur psychisch« als Abwehrgeste im medizinischen Betrieb; psychische Erkrankungen werden als Zipperlein, Spinnerei oder Hypochondrie abgewertet. Wo kämen wir denn auch hin, wenn alle Therapie kriegen würden! Erst mal müssen genug Hüftgelenke eingesetzt werden, dann können wir weiterreden.
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