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Pro-Forma-Demokratie
Das nach den arabischen Aufständen als Modell gepriesene Tunesien fällt in den Autoritarismus zurück
Nun ist es amtlich: Zur Präsidentschaftswahl in Tunesien, die auf den 6. Oktober angesetzt ist, werden nur drei Kandidaten antreten – der Amtsinhaber Kais Saied sowie der Geschäftsmann Zouhair Magzhaoui und der ehemalige Parlamentsabgeordnete Ayachi Zammel. Maghzaoui wird laut der Nachrichtenagentur Reuters nachgesagt, dass er dem Präsidenten nahesteht. Zammel ist der Vorsitzende der Azimoun-Partei und galt bislang nicht als einflussreicher Politiker. Am Montag hat die Polizei Zammel sogar verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, über Details seiner Wahlkampagne gelogen zu haben. Mahdi Abdel Dschawad, ein Mitarbeiter seines Wahlkampfteams, sagte, die Polizei habe Zammel gegen 3 Uhr nachts in seiner Wohnung wegen des Verdachts der Fälschung von Unterstützungsbekundungen verhaftet, und fügte hinzu, dass »die Angelegenheit absurd geworden ist und darauf abzielt, ihn von der Wahl auszuschließen«.
Die nationale Wahlbehörde (ISIE) teilte am Montag mit, dass drei weitere mögliche Kandidaten abgewiesen worden sind – obwohl ein Verwaltungsgericht vergangene Woche entschieden hatte, dass ihr Ausschluss nicht rechtens war. Diese Gerichtsentscheidung wischte die Wahlbehörde jedoch vom Tisch und erklärte, das Verwaltungsgericht habe seine Entscheidungen nicht innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist von 48 Stunden »offiziell mitgeteilt«.
Ablehnung durch nationale Wahlbehörde
Der Sprecher des Verwaltungsgerichts, Faisal Bouguerra, bestritt diese Darstellung. Die ISIE und die betroffenen Kandidaten seien sehr wohl noch »am selben Tag« über die Entscheidungen des Gerichts informiert worden, sagte er dem Radiosender Mosaique FM. Die Wahlbehörde hatte die Ablehnung der Kandidaten im August damit begründet, dass diese nicht genug Unterstützung für ihre Kandidatur gesammelt hätten. Die drei abgelehnten Kandidaten legten Berufung beim Verwaltungsgericht ein und bekamen Recht – werden aber nun dennoch nicht auf der Wahlliste stehen. Insgesamt hatte die ISIE 14 Anwärter auf das Amt des Staatspräsidenten aus dem Rennen genommen.
Der tunesische Gewerkschafts-Dachverband UGTT kritisierte in einer Erklärung vom Dienstag die Aufhebung der Verwaltungsgerichtsentscheidung durch die Oberste Wahlbehörde. Diese habe sich verpflichtet, Entscheidungen der Verwaltungsgerichte zu respektieren. Der UGTT spricht von einem »rechtlichen und historischen Präzedenzfall« und sieht darin einen schweren Gesetzesverstoß und eine politische Entscheidung. Und seine Stimme hat Gewicht in Tunesien: Der UGTT spielte nach dem Umsturz 2010/11 eine wichtige Rolle als Vermittler und brachte im Dezember 2013 die säkularen und islamistischen politischen Kräfte des Landes an den Verhandlungstisch; außerdem half er mit, die neue Verfassung von Januar 2014 im Konsens zu verabschieden.
»Das ist ein kompletter Putsch gegen den Willen der Wähler.«
Hischem Adschbouni
Tunesischer Demonstrant
Gegen die Steuerung des Wahlprozesses sind die Menschen am Montag in Tunesien auf die Straße gegangen. »Das ist ein kompletter Putsch gegen den Willen der Wähler, ein Präzedenzfall in der Geschichte der Wahlen, dass die Wahlbehörde die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht respektiert«, sagte der Demonstrant Hischem Adschbouni gegenüber Reuters. »Wir sind zum Gesetz der Gewalt übergegangen. Das ist eine Farce.« Oppositionspolitiker sagten, die Wahlkommission sei nicht mehr unabhängig, und ihr einziges Ziel sei es, Saied einen leichten Sieg zu sichern.
Prominente Politiker, darunter Mondher Znaidi, erklärten, das Innenministerium habe sich geweigert, ihnen die von der Kommission als neue Voraussetzung für eine Kandidatur geforderten Angaben zum Strafregister zu machen. Sie warfen den Behörden vor, Tunesien zu den Jahren der Diktatur und der Scheinwahlen vor 2011 zurückführen zu wollen. Tunesische Verfassungsrechtsprofessoren forderten, die Wahlbehörde müsse die Entscheidung des Verwaltungsgerichts unverändert umsetzen, da die Wahlen sonst völlig unglaubwürdig würden.
Wahl wird zur »Ein-Mann-Show«
Der Leiter der Kommission, Farouk Bou Asker, erklärte gegenüber Reportern, die Kandidaten seien wegen fehlender Unterstützung durch die Bürger abgelehnt worden und nicht, weil sie keinen Strafregisterauszug hätten. Tunesische Oppositionsparteien und Menschenrechtsgruppen haben die Behörden beschuldigt, »willkürliche Beschränkungen« und Einschüchterungen anzuwenden, um die Wiederwahl von Saied zu gewährleisten. Ein tunesisches Gericht hat in diesem Monat vier potenzielle Präsidentschaftskandidaten wegen Stimmenkaufs zu acht Monaten Gefängnis verurteilt und ihnen die Kandidatur untersagt. Ein potenzieller Kandidat, Safi Said, erklärte am Freitag, dass er sich aus dem Rennen zurückgezogen habe, weil er sich weigere, an einer »Ein-Mann-Show« teilzunehmen, wie er es nannte.
Darauf läuft es aber tatsächlich hinaus. Präsident Kais Saied regiert seit 2021 mit autoritärer Hand und baut den tunesischen Staatsapparat nach seinem Willen und Gefallen um. Zuerst löste er das Parlament auf, dann ließ er die Verfassung ändern mit der Folge, dass die Rolle des Präsidenten gestärkt wird, und nun bereitet er seine eigene Nachfolge vor. Die Hoffnungen, die so viele Tunesier in eine demokratischere Kultur gesetzt haben, sie scheint derzeit kaum noch berechtigt. Und von der EU ist auch keine Hilfe zu erwarten. In Brüssel setzt man auf Kais Saied, um Migranten an der Überfahrt nach Europa zu hindern. Ein dafür abgeschlossenes Migrationsabkommen verspricht Tunesien viel Geld, wenn dafür Geflüchtete im Land festgehalten werden.
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