• Sport
  • Paralympische Spiele

Bei den Paralympics gilt: Inklusion ist Gold

Länder wie Island, Schweden und die Niederlande sind auch bei den Paralympics von Paris besonders erfolgreich

  • Felix Lill
  • Lesedauer: 5 Min.
Dominant im Rollstuhlbasketball: die Frauen aus den Niederlanden, hier gegen die USA
Dominant im Rollstuhlbasketball: die Frauen aus den Niederlanden, hier gegen die USA

Wenn in Paris alles normal läuft, werden beim Rollstuhlbasketball am Ende wieder die Niederländerinnen oben stehen. 2021 in Tokio holten sie ohne größere Probleme Gold. Bei den noch bis Sonntag laufenden Spielen fuhren sie im Schongang durch die Vorrunde, schlugen Deutschland klar mit 20 Punkten. Auch im Viertelfinale gegen Spanien siegten sie locker mit 61:43. Im Rollstuhlbasketball gelten die Niederländerinnen als Maß der Dinge.

Allerdings nicht nur dort. Generell kommt es häufig vor, dass die Niederlande bei Paralympischen Spielen Gold holen. Im historischen Medaillenspiegel liegt Holland mit einer Bevölkerung von kaum 18 Millionen Menschen auf Platz acht. Jedes weitere Land in den Top 10 – die vorderen drei Plätze belegen die USA, Großbritannien und China – ist deutlich größer.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Wer sich neben dem Parasport auch noch mit Gesellschaftssystemen auseinandersetzt, ist davon nicht überrascht. Über die Niederlande sagt etwa Ian Brittain, Paralympics-Experte und Professor an der Coventry University: »Das ist ein Land, wo es stärkeren Glauben in Werte wie Inklusion und Chancengleichheit gibt.« Allen Menschen, ungeachtet körperlicher Beeinträchtigungen, würden mehr Möglichkeiten gegeben als anderswo, um das höchste Niveau zu erreichen.

In Bezug auf den Parasport heißt das: »Es gibt Sportanlagen auch für Personen mit Behinderung.« Für Parasportler*innen und ihre Teams würden Sporthallen und -plätze reserviert, sodass sie regelmäßig trainieren können. »Und es gibt Personal, das versteht, wie man das Training speziell zuschneiden muss.« In vielen anderen Ländern – Deutschland eingeschlossen – ist das nicht der Standard.

Wobei Brittain ein Thema anspricht, das weit über den Wettkampfsport hinausgeht: die Frage, wie sehr sich eine Gesellschaft jenen Menschen verpflichtet fühlt, die wegen einer Behinderung auf Unterstützung angewiesen sind. Und beim Blick auf historische Medaillengewinne bei Paralympischen Spielen fällt auf: Generell gewinnen zwar am häufigsten wohlhabende Länder, wo man sich die teure Ausrüstung für den Parasport eher leisten kann. Aber innerhalb der reichen Welt brilliert nochmal eine besondere Gruppe an Staaten.

Beim Ranking der Goldmedaillen pro Kopf stehen Island, Schweden, Norwegen und die Faröer Inseln ganz vorne, gefolgt von den Niederlanden und Dänemark. Ebenfalls in den Top 10 befinden sich Neuseeland, Australien, Finnland und Irland. Deutschland folgt auf Platz 19, die USA auf 36, China erst auf Rang 75.

Viele der Länder, die pro Kopf am meisten paralympische Medaillen gewinnen, sind nicht einfach wohlhabend, sondern haben auch eine sozialstaatliche Struktur, die für besonders viele Personen auf hohem Niveau sorgt. In der Politikwissenschaft werden sie oft als »sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten« bezeichnet. Grob zusammengefasst: Alle zahlen in einen Topf ein, jeder ist Teil des Systems, und erhält, wenn nötig, unabhängig von der zuvor eingezahlten Summe die gleichen Sozialstaatsleistungen.

In den Niederlanden bezahlt etwa jeder Heimatbezirk jedem Kind mit einer Behinderung einen Rollstuhl oder eine Prothese. Auch für Sportausrüstung gibt es Unterstützung. In Deutschland – das eher als »konservativer Wohlfahrtsstaat« gilt, wo die individuell zu erhaltenden Sozialleistungen oft davon abhängen, wie viel man vorher ins System eingezahlt hat – ist das weniger der Fall. Eine Petition fordert derzeit, dass deutsche Krankenkassen auch Sportprothesen für den Breitensport bezahlen.

Im deutschen Parasport wird schon lange kritisiert, dass für viele Kinder die Hürden, Sport zu treiben, schlicht zu hoch sind. Es bleibt die Frage, wie viel Einfluss das Internationale Paralympische Komitee überhaupt auf die nationale Behandlung von Menschen mit Behinderung nehmen kann. Die chilenische Politikerin Michelle Bachelet, bis 2022 UN-Menschenrechtsbeauftragte, hofft vor allem darauf, dass die paralympischen Austragungsorte als Leuchttürme wirken.

»Wenn man allein auf die Paralympischen Spiele schaut, haben wir in diesen Jahren direkten Kontakt zu Städten wie Peking, Paris, Mailand und Los Angeles. Die Bürgermeister*innen dieser Städte stellen sich hinter das Event«, sagte Bachelet zuletzt in einem Interview. Das müsse man nutzen: »Um über Menschenrechte zu sprechen, um Wege zu erkunden, wie wir die Leben von Menschen mit einer Behinderung verbessern können.«

Auch in Paris ging es dabei zuletzt allerdings vor allem um das Thema Infrastruktur, was Barrierefreiheit für den öffentlichen Transport, öffentliche Gebäude oder Sportanlagen angeht – kaum um soziale Sicherungssysteme. Nicht nur deshalb ist Ian Brittain weniger optimistisch als Michelle Bachelet: »In vielen Ländern sind alle möglichen Versprechen direkt nach der Abschlussfeier der Spiele schon wieder vergessen. Auf London, wo die Paralympics 2012 stattfanden, trifft das zu.«

Dort gab es zwar auch generell wirtschaftliche Probleme, von den Folgen einer Finanzkrise über den Ausstieg aus der Europäischen Union bis zur Corona-Pandemie. »Hinzu kommt aber, dass wir zuletzt von einer Konservativen Partei regiert wurden, die Personen mit Behinderung vor allem als Last für die Gesellschaft zu sehen schien.« So hätten unter anderem mehr als 2000 Sportanlagen geschlossen, weil Kommunen sparen mussten. »Der Parasport leidet darunter besonders.«

Dies wiederum zeigt sich auf den ersten Blick kaum im Medaillenranking – im absoluten Ländervergleich, ohne Berücksichtigung der Bevölkerungsgröße, steht Großbritannien auch in Paris wieder weit vorne. »Das liegt aber daran, dass weiterhin viel Geld für den Eliten-Parasport zur Verfügung steht.« Dies überdecke das Problem, dass der Sozialstaat in den vergangenen Jahren schwächer geworden sei. Brittain resümiert: »Es zeigt sich mal wieder, die politische Philosophie spielt eine wichtige Rolle.«

Dabei gehe es vor allem um die Frage: Wie sehr begreift man Menschen mit einer Behinderung als Teil der Gesellschaft? Die Antwort hierauf ist ein guter Indikator dafür, wie erfolgreich ein Land bei den Paralympics ist. Im historischen Ranking der Goldmedaillengewinne pro Kopf steht Großbritannien, wo der Sozialstaat eher sparsam ist, nur noch auf Platz 15.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.