Wie Berlin wirklich ist

»Berlin unterm Scheinwerfer« – eine 100-jährige ­­Werbe- und Verteidigungsschrift

  • Marion Dammaschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein Aushängeschild für Berlin der 1920er Jahre war das Metropol Theater.
Ein Aushängeschild für Berlin der 1920er Jahre war das Metropol Theater.

Trotz heftigem Gegenwind und etlicher Vorbehalte aus Berlin wurde 1920 per Gesetzesentscheidung des preußischen Landtags die Stadtgemeinde zu Groß-Berlin ernannt. Die Hauptstadt der Weimarer Republik rückte damit flächen- und einwohnermäßig zu einer Weltstadt auf. Nach London und New York zählte sie mit vier Millionen Berlinern und Berlinerinnen zu den großen Metropolen. Das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der deutschen Republik sollte auch zum Besuchermagnet werden. Dabei fiel der »Centralstelle für Fremdenverkehr für Groß-Berlin« die Aufgabe zu, für die an Spree, Havel und Panke gelegene Kommune als attraktive und weltoffene Stadt zu werben.

Diesem Ziel diente unter anderem die 1924 im Berliner Fichte Verlag (Paul Wustrow) herausgegebene Publikation »Berlin unterm Scheinwerfer«. Der über einhundert Seiten zählenden und mit einem ausgewählten Anzeigen- und Adressanhang ausgestatteten Veröffentlichung sind Zeilen des 1921 gewählten Oberbürgermeisters Gustav Böß vorangestellt. Der linksliberale Kommunalpolitiker begrüßt diese Schrift, weil sie allen entgegenwirken soll, die »jede Gelegenheit benutzen, Berlin in den Augen aller nach Möglichkeit herabzusetzen«. Dagegen wandten sich die hierin veröffentlichten, mit Unterschrift authentifizierten Beiträge von fünfzig Persönlichkeiten. Es waren preußische Beamte und Kommunalpolitiker, Direktoren und Industrielle, Geschäftsleute, Wissenschaftler, Publizisten und Künstler, die von unterschiedlichen Standpunkten aus und »unter den Lichtkegel unvoreingenommener Wahrheitsliebe« mit individuellen Urteilen aller Welt zeigen wollen, »wie Berlin wirklich ist«. 

»Berliner Zimmer mag man schelten, Berliner Frauen-Zimmer nie!«

Gustav Hochstetter

Bereits mit dem Titelbild vom Maler Max Liebermann, der bekennende Berliner war seit 1920 Präsident der Preußischen Akademie der Künste, wird Berlin als sehenswerte geschichtsträchtige Stadt offeriert. Abgebildet ist die Sicht aus dem Fenster seines Wohn- und Atelierhauses auf den Pariser Platz. Der Bitte, das Publikationsvorhaben mit einem Beitrag zu unterstützen, schlossen sich auch die Literaten und Publizisten Gerhart Hauptmann, Else Lasker-Schüler, Maximilian Harden sowie Gustav Hochstetter an. Nobelpreisträger Hauptmann gibt sich weltmännisch und verteidigt Berlin vor Kritikern, für die »Magnet Berlin« zu laut und hektisch sei. Im Unterschied zu New York sei es doch eine Idylle. Die expressionistische Avantgarde-Dichterin Lasker-Schüler (zugleich die Ausnahme im männerdominierten Autorenzirkel) interpretiert Berlin als »kreisende Weltfabrik«, während Harden seine Geburtsstadt als Stadt der Eingewanderten und Einwanderer beschreibt, »die keine Tradition hat, keine duldet und deren ›Kultur‹ sich täglich neu gebären soll«. 

Und Hochstetter, Humorist und Autor zahlreicher Glossen, steuert ein humorvolles Loblied auf die Berlinerin bei. Er dichtet: »Ich ... preise die Berliner Frauen,/ Ich liebe die Berlinerin!/ Bereist hab’ ich Europas Reiche/ Von London bis zum Schwarzen Meer,/ Nichts fand ich, das ich ihr vergleiche/ … Es leuchtet ihr aus den Pupillen/ Das echteste ›Berliner Blau‹./ Berliner Zimmer mag man schelten,/Berliner F r a u e n- Zimmer nie!« Mit Gustav Hochstetters Namen und seinen Arbeiten, die unter anderem im Satiremagazin »Lustige Blätter« erschienen, werden heutzutage nur noch wenige etwas anfangen können. 1942 wurde er Opfer der Judenverfolgung, wurde deportiert und starb 1944 im KZ Theresienstadt. An Hochstetters langjährigen Wohnort Pieskow, heute ein Ortsteil von Bad Saarow, erinnert ein Stolperstein, und hundert Jahre nach seinen Versen über die Berlinerinnen wurden in diesem Jahr seine im Musemsarchiv Fürstenwalde aufbewahrten autobiografischen Aufzeichnungen »Ein Humoristen-Leben« erstveröffentlicht.

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Die in der von der »Centralstelle für Fremdenverkehr für Groß-Berlin« herausgegebene Sammlung endet mit einem Beitrag von Adolf Wermuth, kurzzeitig Oberbürgermeister von Oktober bis November 1920. Im Duktus seiner Zeit bekennt er: »Berlin umfriedet ebensoviel echtes Menschentum, reichlich soviel Arbeitssinn und tapferes Streben und ganz gewiß nicht mindere Standhaftigkeit wie irgendeine Ansiedlung der Gegenwart. Nur daß es anderswo leichter sein mag, diese guten Eigenschaften festzuhalten und auszubauen.«

Diese hundertjährige Berlin-Publikation ist ein Zeugnis nicht allein für das Stadtmarketing in den 1920er Jahren, sondern bietet noch viel Stoff für weiterführende kultur-, literatur- und stadtgeschichtliche Untersuchungen.

Lektüretipp: Gustav Hochstetter, »Ein Humoristen-Leben. Heitere Erinnerungen von Gustav Hochstetter« (Hg. v. Wolf D. Hartmann, Brandenburgischer Akademieverlag, 202 S., br., 15 €)

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