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Berliner Kuriere: Der mühsame Kampf gegen Ausbeutung
Lieferdienste standen im Mittelpunkt des »Tages der menschenwürdigen Arbeit«
5000 Fahrer*innen – sogenannte »Rider« – arbeiten für die Berliner Lieferdienste Lieferando, Uber, Wolt und Flink, schätzt Annekathrin Müller. Sie hat im Juni ihre Studie »Liefern in prekären Verhältnissen« vorgelegt, die erstmals einen umfassenden Blick auf die Berliner Lieferdienste erlaubt. Normale Arbeitsverhältnisse sind die Ausnahme, geringfügige Beschäftigung, Anstellung bei Subunternehmen, die nicht einmal den Mindestlohn zahlen und Scheinselbstständigkeit die Regel. Berichtet wird von falschen Zeitabrechnungen und fehlender Lohnfortzahlung. Undurchsichtige Apps, die jede Lieferung überwachen, oder ein Bonussystem, das erst bei einer gewissen Anzahl von Fahrten greift, verleiten zu risikoreichem Fahren und führt zu Unfällen. Angeheuert werden vor allem Menschen aus dem Ausland, häufig Student*innen von Privathochschulen, die auf das Geld angewiesen sind. Sie haben wenig gewerkschaftliche Erfahrung und kaum Kenntnisse über ihre Rechte als Arbeitnehmende.
Was also tun? Gewerkschaften und das Beratungszentrum für Migration und Gute Arbeit (BEMA) nahmen den »Internationalen Tag der menschenwürdigen Arbeit« am 7. Oktober zum Anlass, um vor dem Roten Rathaus über den Stand der Dinge zu berichten.
Eine der Möglichkeiten, die Unternehmen zu geregelten Arbeitsverhältnissen zu verpflichten, ist eine verstärkte staatliche Kontrolle. Dass dadurch keine Wunder zu erwarten sind, erläuterte Robert Rath vom Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit (LaGetSi) auf der Veranstaltung. Das LaGetSi hatte 2022 in einer vielbeachteten Schwerpunktaktion die Lieferdienste besucht und verheerende Zustände festgestellt: Überschreitung der Maximalarbeitszeit, fehlende Ruhepausen und Verstöße gegen das Verbot von Sonn- und Feiertagsarbeit, Mängel an den Fahrrädern. Ein Lieferdienst musste ein Bußgeld von 15 800 Euro zahlen.
Es blieb bei dieser einmaligen Aktion. Durchgreifende Verbesserungen der Arbeitsbedingungen hat sie nicht gebracht, wie Rath im Gespräch mit dem »nd« eingesteht. »In vielen Branchen stellen wir fest, dass es nach unseren Kontrollen Verbesserungen gibt, aber bei den Lieferdiensten ändert sich höchstens etwas für die Angestellten in den Betrieben, aber nicht für die Fahrer. Die Unternehmen scheinen der Ansicht zu sein, dass ihre Verantwortung für die Arbeitssicherheit am Betriebstor aufhört.« Dabei sei klar, dass bei den Lieferdiensten »auch die Straße zur Arbeitsstätte gehört«. Eine höhere Kontrolldichte sei notwendig, aber personell nicht zu leisten. Fünf Prozent der 5000 Berliner Betriebe sollen laut Vorgabe jährlich überprüft werden – demnach wäre die nächste Kontrolle bei Lieferando & Co. in 20 Jahren.
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, NGG, ebenfalls auf der Veranstaltung am Roten Rathaus präsent, setzt auf betriebliche Organisierung und einen Tarifvertrag. Mit mäßigem Erfolg, wie deren Vertreter Sebastian Riesner berichtete. Die hohe Fluktuation der meist migrantischen Fahrer*innen, die geringen Kenntnisse über Schutzrechte, die fehlenden Erfahrungen mit Gewerkschaften – all das steht der klassischen Organisierung entgegen. Ein Hoffnungsschimmer ist für die NGG der 2022 gegen den Widerstand der Unternehmensleitung durchgesetzte Betriebsrat bei Lieferando. Das Unternehmen stellt Fahrer*innen inzwischen direkt an und zahlt den Mindestlohn. Aber auch Lieferando (»Das Beste unter dem Schlechtesten«, wie ein Rider kommentierte) arbeitet weiterhin mit Subunternehmen, wo erheblich schlechtere Bedingungen herrschen.
Eine wichtige Schnittstelle in der Mobilisierung der Rider spielt das von Arbeit und Leben betriebene »Beratungszentrum für Migration und Gute Arbeit« (BEMA). Es berät von Arbeitsausbeutung Betroffene in acht Sprachen, hält Informationen über die Rechte bereit und sensibilisiert Behörden, die mit rechtswidrigen Arbeitsverhältnissen befasst sind. So wurde im August eine Kooperationsvereinbarung zwischen der BEMA, der Polizei Berlin und dem Hauptzollamt Berlin abgeschlossen, die helfen soll, Strafverfolgung und Opferschutz besser zu verzahnen.
Und die Rider selbst? Am »Internationalen Tag der menschenwürdigen Arbeit« verirrten sich nur wenige vor das Rote Rathaus. Sie hätten auch kaum von der Veranstaltung profitiert. Obwohl Englisch die Verkehrssprache dieser Berufsgruppe ist, waren die Beiträge auf Deutsch und es gab keine Übersetzung. Immerhin waren die Flyer mehrsprachig, die anschließend auf verschiedenen Rider-Routen verteilt wurden.
Für die Abwicklung von Aufträgen nutzt Lieferando eine App namens »Scoober«. Sobald der Start-Button gedrückt wurde, sind die Rider dem Algorithmus ausgeliefert. Ein Restaurant erscheint auf dem Display, Hinfahren, Bestellung entgegennehmen, zum Kunden fahren, abliefern. Nach Informationen der ARD protokolliert die App pro Lieferung sekundengenau, wann ein Fahrer eine Bestellung zugeteilt bekommt, diese abholt und ausliefert. Zusätzlich wird hinterlegt, ob der Rider einzelne Zeitvorgaben einhält oder nicht. Kommt ein Fahrer zu spät bei einem Restaurant oder Kunden an, wird das vermerkt. Der Rider hat keine Informationen, wie es nach der Auslieferung weitergeht – erst wenn die Auslieferung vermerkt ist, erscheint das nächste Restaurant auf dem Display. Wer eine Fahrt ablehnt, etwa weil die nächste Fahrt zehn Kilometer entfernt liegt, fliegt bei Lieferando aus der Schicht und bekommt die restliche Zeit nicht mehr bezahlt, wie Annekathrin Müller in ihrer Studie ausführt. Wie genau der Algorithmus die Aufträge verteilt, bleibt intransparent und sorgt unter den Ridern immer wieder für Unruhe.
»Die Unternehmen scheinen der Ansicht zu sein, dass ihre Verantwortung für die Arbeitssicherheit am Betriebstor aufhört.«
Robert Rath
Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit
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