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Obdachloser vor Gericht: Er hört Stimmen, spricht aber kein Wort
Wo der Sozialstaat versagt, meldet sich die Justiz – ein Fallbeispiel: Ein erkrankter Obdachloser in Berlin vor Gericht
»Aber es ist doch immer noch ein Mensch«, hörte man seinen Pflichtverteidiger sagen; Jörn Manhart in der Pause auf dem Flur des Moabiter Landgerichts in Berlin. Wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung, tätlichen Angriffs sowie Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verhandelte dieser Tage im Saal 806 die Große Strafkammer gegen Dennis S. – einen Obdachlosen, dem man seiner beinahe kindlichen Erscheinung wegen derlei Vergehen gar nicht zutrauen mag. Außerdem leidet der 30-Jährige an paranoider Schizophrenie: Er hört Stimmen, spricht aber selbst kein Wort.
Der Gutachter, ein forensischer Psychiater, sagt, dass S. mit seinem Schweigen sein Innenleben vor der Außenwelt schützt, weil er fürchte, dass seine Sätze gegen ihn verwendet werden. Noch dazu sei er kognitiv nur eingeschränkt in der Lage, dem Geschehen vor Gericht zu folgen. Dennis S. sitzt einfach nur da, neben seinem Anwalt und der Sozialarbeiterin aus der Klinik, und schaut mit traurigem Blick aus dem Fenster. Und manchmal sind die Stimmen, die er hört, auch nett zu ihm. Dann lächelt er für einen Moment und nickt. Viel ist von ihm nicht bekannt. Geboren in Pirmasens, Abschluss der Mittleren Reife, Wehrdienst abgebrochen wegen massiven Konsums diverser Suchtmittel. Die Eltern, vermutet der Anwalt, waren vielleicht Spätaussiedler. Der Angeklagte selbst schweigt auch dazu.
Doch so viel steht fest: Dennis S. erträgt keine Berührung, so der Zeuge Mehmet K., Späti-Inhaber beim Ostkreuz. Über vier Monate habe S. vor seinem Laden campiert und immer nur Bier gekauft, Sternburger. Zu essen habe er von den Leuten bekommen, die draußen vorbeigingen; manche hätten sogar im Späti für ihn Lebensmittel gekauft. Nur: »Einen Tag ist er ruhig, dann aber ist er ein anderer Mensch, schreit herum.« Die Läden in der Nachbarschaft hätten die gleichen Probleme. Offenbar rastet S. immer wieder aus, es brodelt in ihm, wobei er nie betrunken war. Eines Tages dann, konkret: am 11. August 2023, sei der Mann in seinen Laden gekommen, habe sich eine Flasche Wein gegriffen und sei damit rausgerannt, sodass Mehmet K. ihm nachlaufen musste. Als er den Flüchtigen samt Flasche stellen konnte, ihn an dessen Kleidung festhielt, sei der Angeklagte außer sich geraten und habe ihm am Hals gekratzt und das T-Shirt zerrissen. War das alles, fragt man sich. Deswegen der Prozess?
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Die anderen Anklagepunkte fallen ähnlich aus. Bei irgendeinem Müsliklau habe die Polizei bei Dennis S. in der Tasche ein Küchenmesser gefunden – »Diebstahl mit Waffe«. Vor zwei Jahren dann im Görlitzer Park: Die Beamten hatten Dennis S. einen Platzverweis erteilt. Und als kurze Zeit später ein BSR-Mann ahnungslos zur Tat schritt, die Vielzahl der auf dem Boden liegenden Tüten und Taschen entsorgen wollte, sei jemand brüllend mit dem Stock auf ihn losgegangen. Ob es sich dabei aber um den Angeklagten handelte, mochte der Zeuge vor Gericht nicht bestätigen. Bestätigt aber ist das völlige Versagen des Sozialstaats. Armut wird als ein ästhetisches Problem wahrgenommen.
Für seinen Anwalt eine schwierige Situation: Bei einem Freispruch würde Dennis S. noch am selben Tag wieder auf der Straße landen, die gleiche Geschichte würde wieder von vorn beginnen: Flaschensammeln, Leute anschreien und stehlen. Ein Schuldspruch wiederum könnte dazu führen, dass sein schuldunfähiger Mandant auf viele Jahre in den Maßregelvollzug der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik weggesperrt wird. Ob man seine Schizophrenie auf »Bonnies Ranch« besser behandeln kann als in einer »normalen« psychiatrischen Klinik, darf bezweifelt werden.
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Wie sein Mandant die letzten Jahre verbracht hat, weiß Jörn Manhart nicht. Die Angebote der Berliner Obdachlosenhilfe, z.B. niedrigschwellige Nachtcafés in den Kirchen, wird er eher gemieden haben – die Gerüche, der Lärm, zu viele Menschen, zu viele Sprachen. Obdachlose erleben Gewalt und Diebstahl oft durch andere Obdachlose, und auch Dennis S. wird solche Erfahrungen gemacht haben. Vor Jahren soll sich ICHTYS seiner angenommen haben – das »Christliche Sozialwerk« in Blankenfelde-Mahlow nahe Berlin. Allerdings habe S. auch weiterhin Alkohol, Amphetamine und Cannabis konsumiert. Der eigentliche Grund für die Trennung aber dürfte in der Schwere der Schizophrenie gelegen haben – einer neurologischen Erkrankung, die unabhängig vom Suchtmittelkonsum besteht. Die Helfer bei ICHTYS werden schlicht überfordert gewesen sein.
Seit spätestens 2017 lebt Dennis S. auf der Straße. Dem Gutachter zufolge quälten den Angeklagten Tag für Tag zwei gewaltige Aufgaben: Zum einen musste er mit dem psychotischen Erleben zurechtkommen, dem Wahnerleben und den Stimmen, die S. hört. Zum anderen musste S. seine Existenz absichern, daher die kleinen Diebstähle, die immer wieder Ärger mit der Polizei brachten. Der Gutachter berichtet von mehreren Psychiatrieaufenthalten, aber auch von einer Einlieferung in die Klinik Hennigsdorf, wo die Ärzte um sein Leben gekämpft hatten. Wegen akuter Blutarmut war S. zusammengebrochen. Die schlechte Ernährung, vor allem der Vitaminmangel hatten bei ihm zur Anämie geführt, zu einem schweren Mangel an roten Blutkörperchen. Weil Dennis S. aber bis heute keine Krankenversicherung besitzt, blieb es auch in der Klinik Hennigsdorf bei der Grundversorgung der akuten Beschwerden; jegliche Weiterbehandlung seiner Schizophrenie blieb aus.
Am 3. Februar dieses Jahres kam es schließlich zur Festnahme, gegen die sich der Angeklagte nach Kräften gewehrt habe. An jenem Tag soll Dennis S. völlig verwahrlost gewesen sein, am ganzen Körper mit Läusen befallen und noch dazu ohne jegliche »Kommunikationsbereitschaft«. Von der U-Haft Moabit brachte man S. ins JVA-Krankenhaus Plötzensee. Vom Gericht wurde eine Betreuerin bestellt, deren Hilfe sich aber in engen Grenzen bewegt – Dennis S. ist einer von achtzig Klienten. Vor zwei Monaten dann wurde S. auf Beschluss des Amtsgerichts in die Psychiatrie zwangseingewiesen. Die Schlosspark-Klinik Charlottenburg war als Regelversorger zur Aufnahme verpflichtet, ungeachtet der nicht geklärten Kostenübernahme.
Und jetzt? Dieser Mann ist nicht schuldfähig, und die Gesellschaft muss auch nicht vor ihm geschützt werden. Doch weder ein Schuldspruch noch ein Freispruch helfen weiter, dem Staat nicht und schon gar nicht dem Angeklagten. Kristin Klimke, die vorsitzende Richterin, hat das Dilemma erkannt. Ihre Fragen an die Betreuerin wie auch an die Sozialarbeiterin aus der Schlosspark-Klinik zeigen, dass sie dem Angeklagten eine Perspektive geben will …
Wenn sich das Sozialamt zuständig zeige, so die Betreuerin, könne für S. auch die Wohnfrage in Angriff genommen werden. Leider habe die AOK nach fast zwei Monaten immer noch nicht den Aufnahmeantrag bearbeitet. Die Kasse würde dann rückwirkend die Kosten für den Aufenthalt in der Schlosspark-Klinik übernehmen. Aber all das braucht Zeit. Allerdings sieht die Betreuerin keine Notwendigkeit zur Verlängerung der Unterbringung in der Schlosspark-Klinik. Deren Ärzte meinten, der Zustand von S. sei »chronifiziert«, eine Therapie würde zu keiner Besserung führen. Vor allem aber müsse das Bezirksamt Charlottenburg endlich Verantwortung übernehmen. Dort aber hätte man den Antrag an das Jobcenter verwiesen, weil Dennis S. im arbeitsfähigen Alter sei. Das Jobcenter wiederum lehne die Zuständigkeit ab, weil er mit seiner Schizophrenie nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe – ein Behörden-Pingpong, das menschenverachtender kaum sein könnte.
Jedenfalls will die Betreuerin für Dennis S. zuerst eine Unterbringung suchen, in einem Wohnheim für Obdachlose. Damit wäre dann auch die Zuständigkeit des Bezirksamtes geklärt, ebenso die Krankenversicherung. Die Vorsitzende Richterin fragt den Angeklagten: »Ist es okay für Sie?« Keine Antwort. Darauf Richterin Klimke: »Am besten, er bleibt erst mal in der Klinik, bis alles geklärt ist.«
Am nächsten Prozesstag dann die große Ernüchterung: Die Schlosspark-Klinik hat Dennis S. entlassen, ohne Ausweis, ohne Handy. Von einem Skandal ist die Rede. »Wir hätten noch ein paar Wochen gebraucht«, sagt die vorsitzende Richterin. Am Ende wird der Angeklagte, von dem niemand weiß, wo er sich aufhält und wie es ihm geht, in allen Punkten freigesprochen. Sogar eine Haftentschädigung steht ihm zu, immerhin 4525 Euro. Kein Wort davon, wie der Mann von dem Geldsegen erfahren soll. Bei der nächsten Festnahme vielleicht?
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