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  • »Der Geschmack der Freiheit«

Die Revolution frisst nicht nur Kinder

Mit »Der Geschmack der Freiheit« legt Ute Cohen eine Gesellschaftsgeschichte der Kulinarik vor

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.
Die einen sprechen von Hotdog, die anderen sagen Ketwurst. Tatsächlich handelt es sich um eine Wurst vom argentinischen Rind in einem Briochemantel an zweierlei Saucen aus glasierten Tomaten und handgemahlenen Senfkörnern aus Burgund. Guten Appetit!
Die einen sprechen von Hotdog, die anderen sagen Ketwurst. Tatsächlich handelt es sich um eine Wurst vom argentinischen Rind in einem Briochemantel an zweierlei Saucen aus glasierten Tomaten und handgemahlenen Senfkörnern aus Burgund. Guten Appetit!

Der Realsozialismus hatte die falschen Rezepte. Das ist wörtlich zu verstehen. Man musste nicht in Italien oder Frankreich getafelt haben, um zu erschmecken, dass Konsum- und HO-Gaststätten nicht die Krone der Kochkunst darstellten. Und dass Ostdeutschen der Appetit auf den Kommunismus verging, lag auch daran, dass es sich herumgesprochen hatte: »Anderswo wird besser gespeist.«

Der Sozialismus, der im Sinne von Karl Marx ein gesellschaftlicher Fortschritt war, erwies sich kulinarisch als Rückentwicklung. In Fünf-Jahres-Plänen und Parteilosungen kam das Wort »Genuss« nicht vor. Kein Wunder, dass viele satthatten, was satt machte. Daran änderte auch der Goldbroiler nichts.

Umso mehr lohnt es, sich die Esskultur der Vorgänger – also der bürgerlichen Gesellschaft – etwas genauer anzuschauen. Denn die war nicht nur im marxistischen, sondern auch im gastronomischen Sinn eine Revolution. Vor dem Sturm auf die Bastille hatte es in ganz Paris ein paar Dutzend Restaurants gegeben, zwanzig Jahre später waren es Tausende.

Solche überraschenden Informationen finden sich zuhauf in Ute Cohens kulinarischer Zeitreise »Der Geschmack der Freiheit«. Eine bessere Autorin hätte man sich für dieses Buch nicht wünschen können. Denn Ute Cohen kennt sich nicht nur mit der Entwicklung der Kochkunst aus, sondern weiß auch, wie sich Veränderungen in der Gesellschaft am Herd auswirkten. Wenn das soziale Leben hochkocht, geht es auch in der Küche heißer her als sonst.

Was heute im Bürgertum selbstverständlich ist – »schick essen gehen« –, war damals, ab 1789, tatsächlich revolutionär. Als Königsfamilien und Adlige aus ihren Residenzen verjagt worden waren, hatte dies auch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt: Fallbeilartig standen zahlreiche Spitzenköche auf der Straße. Denn vornehm gekocht hatte man bis dato nur hinter verschlossenen Palasttüren. Nun aber öffnete sich die Haute Cuisine für das Bürgertum. Die arbeitslosen Köche machten sich selbstständig und wurden Gastronomen. Man musste nicht länger Adliger sein, um wie ein Fürst zu tafeln. Eine prall gefüllte Geldbörse genügte, um Versailles auf dem Teller zu haben.

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Sogar die hausbackene deutsche Küche profitierte vom Aufruhr im Nachbarland, zumindest vereinzelt. Mancher königstreue Chef de Cuisine ging ins Exil und überbrückte die Wartezeit, indem er auf eigene Rechnung brutzelte. Der Koch der geköpften Königin Marie-Antoinette war nicht der einzige Franzose, der nach 1789 in Hamburg ein Restaurant aufmachte. Man darf annehmen, dass dort keine eingelegten Heringe aufgetischt wurden.

So erweiterte die Französische Revolution auch den kulinarischen Horizont der Deutschen. Leider nicht flächendeckend. Von Gourmetinseln wie Hamburg abgesehen, entdeckten die Deutschen erst 100 Jahre später die Freuden eines Restaurantbesuchs. Anders als in Frankreich war das Bürgertum zu schwach und zu arm gewesen, um sich gastronomisch zu entfalten.

Und wie war es um die Freiheit bestellt? Ute Cohen beginnt ihr erstes Hauptkapitel mit den Worten: »Die Geschichte der Gastronomie ist auch eine Historie der Freiheit.« Wenn sie schreibt, »Genuss wurde demokratisiert«, dann trifft dies auf das italienische und französische Bürgertum, das endlich mitschlemmen durfte, sicher zu. Auch beendete die Abschaffung der Zünfte 1791 den Irrsinn, dass es zum Beispiel in Restaurants keine Torten und Pralinen geben durfte, weil diese ja ins Tätigkeitsfeld der Konditoren fielen. Die überfällige Gewerbefreiheit sorgte dafür, dass auf den Speisekarten plötzlich Vielfalt herrschte.

Nur ist das mit dem Weltlauf so eine Sache. Dass auf die Revolution die Restauration folgt, ist nicht nur gastronomisch zu verstehen. Bald galten auch »an den neuen Orten bürgerlicher Zusammenkunft« strenge Regeln. »Der falsche Anzug, die falsche Krawatte sind Grund genug, zum Paria zu werden in einer Gesellschaft, die sich über Codes und Zeichen definiert.«

Und von diesen Codes gab es viele. Der neue Geldadel »sah sich nicht mehr genötigt, den Marquis oder den König mit der exquisiten Wortwahl zu beeindrucken, nutzte aber stilistisches Empfinden und klare Bewertungskriterien als Distinktionsmerkmal gegenüber weniger kultivierten Zeitgenossen«. So wurde im Restaurant neben dem Essen auch der eigene Marktwert getestet. »Sehen und gesehen werden waren von zentraler Bedeutung für das Image und die Reputation. Wer gesehen wird, existiert! Wer gesehen wird, ganz kaufmännisch betrachtet, zählt!« Besonders entspannt geschweige denn frei, klingt das nicht.

Dennoch sollte man von dem Buch keine ins Grundsätzliche gehende Kapitalismuskritik erwarten. Ute Cohen – das zeigt sich an der Begeisterung, mit der sie über Köche und Kochkunst schreibt – ist ein Genussmensch. Eine Citoyenne, die keinen Hehl daraus macht, dass Gourmetfreuden in Verbindung mit geistigem Austausch zum Wesen des Bürgertums gehören. Aber das hält sie nicht davon ab, genau hinzuschauen. So würzt sie ihr Loblied auf den »Geschmack der Freiheit« immer wieder mit bitteren Zwischentönen. Den brutalen Konkurrenzdruck, dem bereits die Restaurants des 19. Jahrhunderts ausgesetzt waren, beschreibt sie unverblümt.

Sie ist sich bewusst: Auch in der Küche frisst die Revolution ihre Kinder. Das Brandneue macht kurzen Prozess mit dem Neuen von gestern. Da geht Henri Gault (der vom Restaurantführer »Gault-Millau«) eben noch auf die Barrikaden: »Die Sternehierarchie des Guide Michelin spiegelte ein offizielles Frankreich wider, das in Mayonnaise erstarrt und in vorgeschriebenen Figuren gefangen war. Zum Beispiel musste Kalbfleisch zwangsläufig mit Spinat serviert werden. Also machten wir unsere Palastrevolution und brachten 1969, im Zuge des Mai 68, ein gastronomisches Magazin auf den Markt.« Doch schon wenige Jahre später gehört der Revoluzzer selbst zum Establishment.

Es ist ein Teufelskreis. »Bewerten, vergleichen, verbessern, immer schneller drehte sich das Rad der Veränderung. Die Politik des ewigen Wechsels und die kapitalistische Devise des Continuous Change bergen die Gefahr einer Destabilisierung des Individuums. Burn-out und nervliche Zerrüttung sind die Konsequenzen der permanenten Überforderung.« Das geht so weit, dass sich Spitzenköche umbringen, nachdem sie einen Michelin-Stern verloren haben.

Spätestens dann beginnt man an der Freiheit, die doch auf der Zunge beginnt, zu zweifeln. Zumal selbst die Gäste bisweilen von der Freiheit überfordert sind. Die Historie – auch die der Kulinarik – zeigt: Der Mensch neigt zu Extremen. Er pendelt zwischen Völlerei und Askese. Derzeit dominiert letztere Grundhaltung. »Zur Schau getragene Dekadenz ist verpönt in einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich mehr einem Verzichtsethos zuneigt als kulinarischer Exzentrik.« Doch diese Selbstbeschränkung kann sich nur eine Gesellschaft erlauben, »die ein gewisses Maß an Wohlstand bereits erreicht hat, in der der Kampf um Nahrung gewonnen ist«.

Also alles in Butter beziehungsweise in Diätmargarine? Auf ihrer minutiös recherchierten, barock-opulent beschriebenen Zeitreise macht Ute Cohen auch Zwischenstation bei Michel Houellebecq und seinem Roman »Vernichten«. Wenn sie in diesem Zusammenhang von der »Unfähigkeit, das Leben zu kosten und dem Sinnesgenuss schwelgerisch Ausdruck zu verleihen« spricht, ahnt man, dass sie, die lebensfrohe Genießerin, unter der Gegenwart leidet. Ihr Schlusswort – »Die Kenntnis der Geschichte der Kulinarik ist für mich unabdingbar dafür, die eigene Genussfähigkeit zu entdecken und zu erweitern« – ist daher auch als Appell zu verstehen. Wann waren Sie zuletzt gut essen?

Ute Cohen: Der Geschmack der Freiheit. Eine Geschichte der Kulinarik. Reclam, 272 S., geb., 24 €.

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