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Kollisionsmaschinen im Untergrund
Das Europäische Forschungszentrum Cern feiert sein 70-jähriges Bestehen und ist heute die erste Adresse für Teilchenphysik
Schon eine ganze Reihe bahnbrechender Entdeckungen gelang den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am Europäischen Kernforschungszentrum Cern (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) bei Genf. Vor etwas über zehn Jahren wurde hier das berühmte Higgs-Boson gefunden – in den Medien oft »Gottesteilchen« genannt, weil es anderen Teilchen ihre Masse verleiht. Und die Suche nach den Grundbausteinen der Materie, auf die das Cern spezialisiert ist, hat auch technologische Innovationen vorangetrieben, die der ganzen Menschheit zugutekommen.
Geboren wurde das Cern aus der Not nach dem Zweiten Weltkrieg, als einige führende Wissenschaftler wie Niels Bohr und Louis de Broglie sich Gedanken über ein gemeinsames europäisches Kernforschungszentrum machten. Dieses sollte das Grauen und die Spaltungen von Krieg und Nationalismus überwinden und zugleich die Forschungsmöglichkeiten der Europäer in der Grundlagenphysik bündeln – auch um den USA gegenüber aufzuholen.
Im Jahr 1954 wurde schließlich das Cern offiziell gegründet, anfangs mit zwölf Mitgliedstaaten. Mittlerweile sind es 23, zehn weitere Staaten sind assoziiert und rund 17 000 Mitarbeiter aus 110 Ländern arbeiten am oder für das Forschungszentrum. Seit diesen Anfängen hat sich das Cern mit beharrlicher Arbeit Schritt für Schritt an die Spitze der Teilchenphysik geschoben und beherbergt heute den leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt: den Large Hadron Collider, kurz LHC.
Bestätigung des Standardmodells
Schon bald nach der Gründung des Cern gelangen dort einige wichtige Messungen, welche die Theorie des sogenannten Standardmodells der Teilchenphysik bestätigten und weiterbrachten. In dieser Theorie sind drei der vier grundlegenden Naturkräfte zusammengefasst. Die starke Kernkraft beschreibt den Zusammenhalt der Quarks und Gluonen in Atomkernen. Die schwache Kernkraft behandelt Umwandlungsprozesse von Quarks und leichten Teilchen wie Elektronen und Myonen. Die elektromagnetische Kraft wiederum erklärt alle elektrischen und magnetischen Phänomene.
Nur die vierte physikalische Grundkraft, die Gravitation, wird nicht vom Standardmodell erfasst, sondern von Einsteins Relativitätstheorie beschrieben. Es ist eine große Hoffnung vieler Wissenschaftler am Cern, die Gravitation eines Tages in ein erweitertes Standardmodell integrieren zu können – auch wenn sich dies bislang nicht als möglich erwiesen hat.
Um all diesen Naturkräften auf den Zahn zu fühlen, braucht es Teilchenbeschleuniger, mit denen winzige Teilchen auf enorme Energien gebracht und anschließend mit anderen Teilchen kollidiert werden. Bereits Ende der 1950er Jahre hatte das Cern mit dem »Proton Synchrotron« für kurze Zeit den weltstärksten Beschleuniger. Mehrfach überholt, ist diese Anlage noch heute in Betrieb und speist hochenergetische Protonen in die mittlerweile wesentlich größeren Nachfolge-Beschleuniger. Am Proton Synchrotron wurde in den 1960er Jahren erstmals ein Antideuteron erzeugt – also der Atomkern des »schweren Antiwasserstoffs«.
In den 1970er Jahren nahm dann das »Super Proton Synchrotron« den Betrieb auf, mit dem mehrere fundamentale Teilchen des Standardmodells dingfest gemacht werden konnten: die sogenannten W- und Z-Bosonen. Diese sind für die schwache Kernkraft verantwortlich und unter anderem bei allen radioaktiven Prozessen beteiligt, bei denen Betastrahlung und Neutrinos frei werden.
Die größte Baumaßnahme in seiner Geschichte vollführte das Cern dann mit der Entscheidung, einen 27 Kilometer langen, kreisförmigen Tunnel rund 100 Meter unter der Erde zu graben, um dort einen noch sehr viel leistungsfähigeren Teilchenbeschleuniger zu installieren: den Large Electron Positron Collider, kurz LEP. Diese Anlage lief ab 1989 und sollte die W- und Z-Bosonen eingehend untersuchen und dadurch die weitere Entwicklung der Teilchenphysik bestimmen. Zusammen mit dem Fermilab bei Chicago und dem dortigen Teilchenbeschleuniger namens Tevatron war das Cern mittlerweile das führende Forschungszentrum für Teilchenphysik weltweit.
Nach einer längeren technischen Pause im Jahr 1996 wollte die Anlage auf einmal nicht mehr laufen. Dank der guten Strahldiagnostik ließ sich die Sektion eingrenzen, in der das Problem auftauchte. Man öffnete das Strahlrohr – alles zeitaufwendige Prozeduren in solchen Hochvakuum-Anlagen – und siehe da, der Schuldige war gefunden: Eine Bierflasche steckte im Strahlrohr! Man untersuchte auch die Nachbarsektionen und fand eine weitere Bierflasche. Bis heute ist nicht geklärt, ob sich hier jemand einen groben Streich erlaubt hat, ob es gezielte Sabotage eines unzufriedenen Arbeiters war oder ob vielleicht jemand nach etwas feucht besiegeltem Dienstschluss die Buddel einfach dort vergessen hatte. Eines der vielen ungelösten Rätsel der Teilchenphysik ... dei
Aus Präzisionsmessungen am LEP ergab sich unter anderem, dass es nur drei leichte Typen von Neutrinos geben kann – ein wichtiger Hinweis auf die Vorhersagekraft des Standardmodells, in dem es genau drei Neutrinosorten gibt.
Der LEP lief bis zum Jahr 2000 und musste dann Platz machen für seinen Nachfolger, den Large Hadron Collider (LHC). Beide Anlagen passten nicht zusammen in die Tunnelröhre. Der LHC beschleunigt im Gegensatz zum LEP nicht Elektronen und Positronen, sondern Protonen und erreicht nochmals wesentlich höhere Energien.
Sternstunde der Teilchenphysik
Seit 2008 läuft der LHC und hat seitdem nicht nur zahlreiche exotische Teilchen wie etwa Pentaquarks und dergleichen gefunden, sondern auch das mysteriöse Higgs-Boson entdeckt. Die Verkündung dieses Ergebnisses im Jahr 2012 kann als Sternstunde der Teilchenphysik angesehen werden: als Bestätigung einer Arbeit, der Tausende von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus mehreren Generationen weltweit ihr Lebenswerk gewidmet haben.
Nach diesem Teilchen, das anderen Elementarteilchen ihre Masse verleiht, war seit Jahrzehnten vergeblich gesucht worden – nicht nur am Cern, sondern auch am LEP, am Fermilab und anderswo. Die zwei großen Universaldetektoren am LHC, Atlas und CMS, konnten schließlich beide das Higgs in ihren Daten finden.
Auch das sogenannte Quark-Gluon-Plasma wurde am Cern vermessen. Dies ist ein extrem heißer und dichter Materiezustand, 100 000-fach heißer als im Zentrum der Sonne und zwanzigmal dichter als in Atomkernen. Sekundenbruchteile nach dem Urknall war das gesamte Universum von diesem Materiezustand erfüllt, bevor es sich ausdehnte und abkühlte. Die leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger können dieses Teilchenplasma mittlerweile routinemäßig erzeugen, indem sie schwere Atomkerne mit höchster Energie aufeinander schießen.
Was bringt die Zukunft?
Mit der Entdeckung des Higgs vor über zehn Jahren war die Suche nach den Bausteinen des Standardmodells allerdings abgeschlossen: Alle Elementarteilchen, die die Theoretiker vorhergesagt hatten, waren nun auch experimentell nachgewiesen. Und nun? Ist dies schon das Ende der Teilchenphysik? Weit gefehlt: Es gibt zahlreiche offene Fragen und ungelöste Rätsel. Unter anderem weiß niemand, was es mit der Dunklen Materie auf sich hat, die im Kosmos deutlich mehr Masse ausmacht als unsere gewöhnliche Materie.
So gibt es bislang in allen möglichen Experimenten auf der Welt nicht den kleinsten Hinweis, woraus die Dunkle Materie bestehen könnte. Viele Teilchenphysiker setzen deshalb große Hoffnungen auf die kommende Ausbaustufe des LHC, den sogenannten High-Luminosity LHC. Dieser soll bei der nächsten großen Umbaupause als Upgrade des LHC installiert werden und im Jahr 2029 den Betrieb aufnehmen. Dann wird die Anlage bei nur leicht gesteigerter Maximalenergie wesentlich mehr Kollisionen erzeugen.
Die Forscher versprechen sich davon deutlich mehr Kollisionsdaten und damit bessere statistische Auswertungen, um nicht zuletzt die Eigenschaften des Higgs auf Herz und Nieren zu prüfen. Insbesondere steht die Frage im Raum, ob sich das Higgs wirklich exakt so verhält, wie vom Standardmodell der Teilchenphysik vorhergesagt. Vielleicht zeigen sich hier oder da doch Anomalien? Gibt es eventuell mehr als ein Higgs-Boson? Eine Erweiterung des Standardmodells, die sogenannte Supersymmetrie, versucht die Dunkle Materie mithilfe schwerer, bislang unentdeckter Geschwisterteilchen der normalen Materie zu erklären. Ihr zufolge könnte das Higgs-Boson vier Geschwisterteilchen haben, mit zum Teil ähnlichen Eigenschaften wie das Higgs-Boson.
Gegenwärtig produziert der LHC ungefähr ein Higgs pro Sekunde. Aber nur eines von 1000 Higgs-Bosonen kann einfach von den Detektoren entdeckt werden. Deshalb wünschen sich die Teilchenphysiker mehr Higgs-Bosonen. Man darf gespannt sein, welche Ergebnisse der High-Luminosity LHC bringen wird, der bis in die 2040er Jahre laufen soll. Wird er zumindest das eine oder andere Teilrätsel zur Dunklen Materie lösen?
Die Frage steht auch im Raum, ob als Nachfolger des LHC ein noch größerer Teilchenbeschleuniger am Cern gebaut werden sollte – und wer das alles bezahlen soll. Und selbst wenn eine solche Riesenanlage anderswo gebaut wird: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Cern werden daran beteiligt sein und weiterhin die Teilchenphysik und die damit zusammenhängenden Technologien voranbringen.
Es ist eine große Hoffnung vieler Wissenschaftler, die Gravitation eines Tages in ein erweitertes Standardmodell integrieren zu können.
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