- Politik
- Soziale Politik in den USA
»Eine Vision, wie Amerika besser sein könnte«
Der demokratische Sozialist Jabari Brisport setzt sich im Oberhaus des Bundesstaats New York für sozialen Fortschritt ein
Was bedeutet Sozialismus für Sie?
Beim Sozialismus geht es zentral um die Interessen der Menschen. Im Gegensatz zum Kapitalismus stellt er die Menschen über den Profit, wenn es nicht um Gewinne gehen darf: im Gesundheitswesen, dem Bildungssystem, im Verkehr, unserem Finanzsystem – all diese Dinge müssen für die Menschen funktionieren und nicht nur Aktionären dienen.
Wie wurden Sie zum Sozialisten?
Das Wort kam mir zum ersten Mal während der ersten großen Rezession meines Lebens unter, dem Börsencrash von 2008, und als ich von Occupy Wall Street hörte. Aber als Sozialist identifizierte ich mich erst mit dem Wahlkampf von Bernie Sanders 2016, der offen als demokratischer Sozialist antrat. Ich dachte damals viel über die Geschichte der Sklaverei in Amerika nach, weil sie ein offensichtliches Beispiel für Kapitalismus war. Die Schwarzen waren das Kapital. Und was ist Kapitalismus, wenn nicht ein Preisschild an etwas anzubringen, woran man kein Preisschild anbringen sollte?
Jabari Brisport ist einer der ranghöchsten sozialistischen Politiker in den USA. Der 37-Jährige ist Mitglied der Democratic Socialists of America (DSA) sitzt seit 2021 als State Senator im Oberhaus des Bundesstaats New York. Der ehemalige Lehrer kämpft dort für mehr Mieterschutz, kostenlose Kinderbetreuung und höhere Steuern für Reiche.
Vor Ihrem Einstieg in die Politik waren Sie Lehrer.
Ja, ich unterrichtete in Crown Heights, Brooklyn, einem Viertel, in dem historisch viele Schwarze wohnen und Menschen mit Wurzeln in der Karibik. Die Schule war überfüllt und hatte nicht mal genug Stühle, dass alle Schüler zusammen in der Caféteria Mittag essen konnten. Es fehlten auch Schulbücher. Also rannte ich jeden Morgen zum Kopierer, damit meine Schüler die wichtigsten Materialien bekamen. Und während all das passierte, wurden Milliardäre jedes Jahr reicher.
Warum haben Sie den Beruf gewechselt?
Ich habe mich gleich nach Donald Trumps Wahl für den Stadtrat beworben, weil ich große Angst davor hatte, was er anrichten würde. Ich wollte wenigstens auf lokaler Ebene für meine Gemeinde kämpfen. Damals war ich gerade mal 30. Die Wahl habe ich verloren, und ich kehrte in den Unterricht zurück. Ein paar Jahre später wurde dann jener Sitz im New Yorker Senat frei, den ich heute vertrete. Die Leute drängten mich, dafür zu kandidieren. Nach viel harter Arbeit und mit etwas Glück konnte ich die Wahl gewinnen.
Wie würden Sie Ihren Wahlbezirk in Brooklyn beschreiben?
Er ist äußerst vielfältig. Einige Leute besitzen mehrere Millionen Dollar teure Häuser, andere leben in Sozialwohnungen und verdienen weniger als 30 000 Dollar im Jahr. Die Menschen sind insgesamt sehr progressiv. Unser Wahlprogramm basierte auf dem Prinzip, dass viele Dinge für alle, also universell gelten sollten. Das kam gut an, egal ob sich die Leute als Sozialisten bezeichnen oder nicht. Ich habe ohnehin noch nie jemanden getroffen, der meinte, die Gesundheitsversorgung sei kein universelles Recht, sondern sollte gewinnorientiert betrieben werden. Außer natürlich diejenigen, die genau daran verdienen.
Seit dreieinhalb Jahren sind Sie einer von 63 Senatoren, die im Oberhaus des Bundesstaats gut 19 Millionen Menschen vertreten. Worauf haben Sie sich als Senator konzentriert?
Unsere obersten Prioritäten waren ein Mieterschutzgesetz, höhere Steuern für Reiche sowie ein milliardenschwerer Fonds für öffentliche Schulen. Schon in meinem ersten Jahr erreichten wir, dass die reichsten Menschen New Yorks rund vier Milliarden Dollar mehr Steuern zahlen. Ein erheblicher Teil davon fließt in die Schulstiftung.
Und der Mieterschutz? Konnten Sie da auch etwas bewegen?
Ja. Ein neues Gesetz gewährt ihnen mehr Schutz vor Räumungen, was speziell in meinen Bezirk, der sich mit hohen Mietspitzen schnell gentrifiziert, besonders wichtig ist. Für eine Räumung muss jetzt ein guter Grund vorliegen. Auch wenn die Miete nicht bezahlt wurde, wird der Vermieter erst mal gefragt, ob er die Miete in letzter Zeit stark erhöht hat, und wenn ja, warum? Natürlich haben wir nicht alles erreichen können, was nötig wäre. Aber das ist ein Kampf, den wir an einem anderen Tag weiterführen. Ich will auch noch für eine allgemeine Kinderbetreuung sorgen, die für alle Eltern kostenlos ist.
Die Wahlen am 5. November 2024 sind für die US-Bürger wie auch den Rest der Welt eine der wichtigsten Richtungsentscheidungen dieser Zeit. »nd« berichtet über die Stimmung und Probleme im Land, über Kandidaten und ihre Visionen. Alle Texte zur US-Wahl finden Sie hier.
Das klingt, als hätten Sie das noch nicht geschafft?
Nein, aber wir haben die Zahl der anspruchsberechtigten Eltern erhöhen können. Als ich anfing, durften Eltern im Jahr keine 60 000 Dollar verdienen, um Anspruch auf Hilfe bei der Kinderbetreuung zu haben. Jetzt liegt die Grenze bei mehr als 90 000 Dollar. Das Ziel ist ein universelles Programm für alle, egal wie viel sie verdienen, denn wer nur knapp über der Schwelle liegt, bekommt gar keine Hilfe. Außerdem haben wir die Zuzahlungen stark gesenkt. Um staatliche Hilfe zu bekommen, mussten Eltern früher bis zu 35 Prozent ihres Einkommens zuzahlen, jetzt sind wir runter auf ein Prozent.
Funktioniert alles nur mit Kompromissen?
Alles, was ich als Sieg verbuche, war eine Art Kompromiss. Ich feiere auch die höheren Steuern für Reiche, schließlich waren es mit Abstand die höchsten seit Jahrzehnten. Dabei habe ich im Wahlkampf noch für 40 Milliarden plädiert, also das Zehnfache des Erreichten, was sich diese Menschen auch leisten könnten. New York ist ein sehr wohlhabender Staat. Für weitere Schritte müssen wir unsere Machtbasis ausbauen.
Wie viele Sozialisten gibt es im New Yorker Senat?
Acht, und wir bekommen bald eine neunte dazu. Mehr gab es zuletzt vor mehr als 100 Jahren. Was wir tun, ist also historisch, aber auch weit von dem entfernt, wo wir sein sollten.
Die Mehrheit im Bundesstaat wählt stets die Demokraten, deren Fraktion Sie angehören und die auch fast alle wichtigen Ämter innehaben. Sind die nicht-sozialistischen Demokraten eher Gegner oder gute Kollegen?
Das hängt vom Thema ab: Gegen das Gesetz zum Mieterschutz haben sich einige demokratische Parteimitglieder vehement gewehrt. Es fühlte sich schon an, als wären wir Gegner in dieser Sache. Bei anderen Dingen wiederum versuchen alle einen Konsens zu erzielen.
Wie können Sozialisten an Macht gewinnen? Durch eine Transformation der Demokratischen Partei oder doch durch eine eigene?
Bis wir drastische Änderungen an unserem Wahlsystem erreichen, geht es nur innerhalb der Demokraten. Ich bin 2017 als Kandidat der Grünen angetreten – unabhängig von den beiden großen Parteien – und habe eine ordentliche Abreibung bekommen. Es gibt nun mal viele strukturelle Schwierigkeiten bei der Gründung einer dritten Partei in Amerika.
Treten Sie deswegen mittlerweile offiziell als Demokrat an?
Ja. Nach diesem Wechsel habe ich meine nächste Wahl auch gewonnen. Jetzt bin ich also ein Sozialist mit Macht, statt einer ohne Macht. Zuletzt schafften es die Republikaner vor mehr als 150 Jahren, sich als Drittpartei durchzusetzen. Aber wer weiß? Es könnte wieder passieren. Ein beträchtlicher Teil der DSA möchte, dass wir eine separate Partei gründen. Ich bin von der Idee nicht wirklich überzeugt, denn die würde wohl nicht besser abschneiden als die Grünen.
Zwischen 2007 und 2020 stiegen die Mitgliederzahlen der DSA enorm an. In den vergangenen Jahren gab es aber wieder einen Abschwung. Wo steht die Bewegung derzeit?
Ja, sie hat zuletzt Mitglieder verloren. Das passiert vielen linken Gruppen, wenn ein Demokrat Präsident ist, so wie Joe Biden jetzt. In den 2000er Jahren gab es unter George W. Bush eine massive Antikriegsbewegung, die dann verpuffte, als Obama Präsident wurde, obwohl die Kriegsmaschinerie weiterlief. Es ist nun mal einfacher zu denken, dass schreckliche Dinge nur passieren, wenn die andere Seite sie macht. Leicht ist es, gegen Einkommensungleichheit zu mobilisieren, wenn sie unter Trump passiert. Hält sie dann unter Biden an, muss man erst mal mit der eigenen kognitiven Dissonanz umgehen, dass da gerade unsere Seite Schlechtes tut. Viele lösen diese Dissonanz, indem sie sich von ihrem Aktivismus zurückziehen. Die Linke muss aber herausfinden, wie wir auch dann Menschen mobilisieren können. Der Kapitalismus bleibt ja der Hauptgrund für das meiste Leid. Und Kapitalisten an der Macht weigern sich, die Reichen tatsächlich herauszufordern.
Wo haben die Linken selbst Fehler gemacht?
Sie vergessen es manchmal, Menschen eine positive Zukunftsvision zu geben. Hoffnung war nicht umsonst Obamas Mantra. Kamala Harris setzt ebenfalls viel auf Hoffnung und Freude. Zu oft fokussieren wir uns nur auf die Probleme. Natürlich ist vieles schlecht am Kapitalismus. Aber was mich zum Sozialismus hinzog, war nicht all das, was man anprangern muss. Es war die Idee der Krankenversicherung für alle; eine positive Vision davon, wie Amerika besser sein könnte.
Worüber wird bei Ihnen noch zu wenig gesprochen?
Einige populäre Vorschläge wie Kinderbetreuung für alle lassen sich nur schwer zur Priorität in der DSA machen. Das liegt zum Teil daran, dass viele unserer Mitglieder noch sehr jung sind und noch keine Kinder haben. Ihr Fokus liegt daher eher auf bezahlbarem Wohnraum und dem Klima. Dabei könnten wir bei Themen wie Kinderbetreuung eine Führungsposition einnehmen.
Und worüber sprechen die Sozialisten zu viel?
Intern liegt der Fokus oft zu sehr darauf, wer welche Art von Sozialist ist. Unsere Bewegung ist viel zu klein, dass wir es uns leisten könnten, gegeneinander zu kämpfen. In der Außendarstellung sehe ich keine wirklichen Probleme. Aktuell ist ein Großteil der Sozialisten auf den Kampf gegen den Völkermord in Palästina fokussiert. Ich finde das auch richtig so.
Dieses Interview wurde zuerst im Podcast What’s Left veröffentlicht, eine Ko-Produktion der Schweizer »Woz« und der Monatszeitung »Analyse und Kritik«.
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