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Ein schillernder Mensch

Warum hortet man so viele Dinge? Mit »Erbgut« hat Marlen Hobrack ein Buch über ihre Mutter geschrieben

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 5 Min.
Pathologisches Horten gilt als eine der wenigen Erkrankungen, die in allen Einkommensklassen gleichermaßen auftreten.
Pathologisches Horten gilt als eine der wenigen Erkrankungen, die in allen Einkommensklassen gleichermaßen auftreten.

Marlen Hobrack hat ein Buch über ihre Mutter geschrieben, das ein Verrat ist. Sie sagt es direkt im ersten Satz: »Dieses Buch ist Verrat.« Denn keinesfalls hätte die Mutter gewollt, dass ihr Leben und vor allem ihre Hinterlassenschaft, ihr Erbe an die Welt und vor allem an ihre Kinder einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht und derart ausgebreitet wird. Denn Marlen Hobracks Mutter ist das, was landläufig ein/e Messie genannt wird; eine Bezeichnung, die nach Lektüre von »Erbgut« hoffentlich kaum noch jemand ohne weiteres verwenden wird.

Ein richtigerer Ausdruck für das, was Hobracks Mutter tat, ist horten. Die Tochter wusste zwar davon, aber erst mit deren Tod und der damit verbundenen Notwendigkeit, die Wohnung der Mutter auszuräumen, erschloss sich ihr die ganze Dimension dieser Horterei: kistenweise Krempel, den die Mutter bei Shopping-Sendern gekauft hatte, jahrzehntealte Rechnungen, überteuerte Putzmittel, Dutzende von Plastikeinlegeböden für Kühlschränke, alte Kuscheltiere, die niemandem etwas bedeuten; vielleicht (sogar wahrscheinlich) nicht einmal der Mutter etwas bedeutet haben; von denen sich zu trennen ihr aber etwas gefehlt hat, von dem man nicht ganz sicher weiß, was es ist. War es die Kraft? Die pragmatische Einsicht? Die emotionale Reife? Oder aber auch: die Hilfe?

Es hätte die Möglichkeit gegeben, das Erbe auszuschlagen, die Wohnung professionell entrümpeln und die ganze Chose auf sich beruhen zu lassen. Marlen Hobracks Geschwister entscheiden sich für diesen Weg, sie selbst aber will das nicht. An späterer Stelle wird sie beschreiben, dass sie schon als Kind sehr eigenständig und durchsetzungsstark gewesen sei, und so wühlt sie sich Tag um Tag durch die Kisten, Schränke, Schubladen, Ablagen, Kartons, und es scheint nie ein Ende zu nehmen. Schicht um Schicht trägt sie ab und hält dies dann wiederum fest, auf ihre Art, in einem Buch. Wenn dieses Buch ein Verrat ist, dann wohl der notwendige Verrat der Kinder an ihren Eltern.

Pathologisches Horten gilt als eine der wenigen Erkrankungen, die in allen Einkommensklassen gleichermaßen auftreten; es kennt keinen ökonomischen Bias. Es gibt unterschiedliche Theorien zur Ursache, aber allgemein gilt eine schwerwiegende frühkindliche Traumatisierung als eine Gemeinsamkeit der Betroffenen. Diese frühkindliche Traumatisierung existiert auch im Fall der Mutter (die im Buch keinen Namen hat). Sie war die Zweitälteste von sechs Geschwistern und wuchs unter der Knute einer sie – und nur sie – hassenden Mutter auf. Die Leere, die dieser Liebesmangel in frühen Jahren hinterließ, und auch der materielle Mangel, den ihre Mutter früh schon erlebte, verbinden sich, so denkt es sich Marlen Hobrack, zu »einem überbordenden Gefühl der Leere, die gefüllt werden muss«.

Eine der großen Stärken dieses Buches ist es, dass einzelne Erklärungen nicht zu Leitthesen werden, um die herum Marlen Hobrack dann ihre Mutter herumkonstruiert wie eine Vogelscheuche. Sie probiert immer wieder neue und andere Ansätze aus, sich sowohl der Mutter als auch ihrem Hort zu nähern, es fließt sehr viel intellektuelle Arbeit in diese Erklärungen, ebenso wie viel körperliche Arbeit in das Ausmisten des Hortes fließt. Und doch traut sich Marlen Hobrack immer wieder, sich selbst zu hinterfragen: nachzudenken darüber, ob sie mit ihren Erklärungen das Richtige trifft. Und sie sucht auch in sich selbst nach Erklärungen: Kauft sie nicht selbst schnell und unüberlegt Dinge – Bücher zum Beispiel, Wäsche – wenn sie sich einsam fühlt? Und wenn sie alle paar Monate ausmistet, tut sie das nicht auch, um auf keinen Fall so zu sein wie die Mutter?

Gerade deswegen ist es kein Special-Interest-Buch, das ausschließlich um das Thema »Pathologisches Horten« kreist oder um die Mutter, sondern insgesamt um die Frage, wie Kinder damit umgehen, wenn Eltern Hilfe brauchen, aber nur die Kinder zur Verfügung stehen. Über ihr früheres Verhältnis zur Mutter schreibt Hobrack zum Beispiel: »Ich beging einen klassischen psychologischen Fehler, den Angehörige oft begehen, wenn ein Mensch psychische Probleme jedweder Art hat: Man versucht, rational zu erklären, warum das, was der andere tut, eigentlich unsinnig, eben irrational ist. (…) Aber was, wenn all das ihr Freude bereitete?«

Und was sind, bei Lichte betrachtet, die Dinge, die Freude bereiten? Manche sind sozial akzeptierter als andere, aber das grundlegende Begehren, da ist Hobrack ganz Lacanianerin, ist ohnehin immer vergeblich. Die Mutter war eben kein Freak, keine absurde Nebenfigur irgendeines sich sozialkritisch gebenden »Tatort«. Und nicht zuletzt ist sie Marlen Hobracks Mutter: jemand, der sich auf vielfältige Weise in ihr Leben eingeschrieben hat, auf derart vielfältige Weise, dass es enormer Anstrengung bedarf, sich all die Verstrickungen zu vergegenwärtigen. Das Entrümpeln der Wohnung ist auch eine Klärung der Beziehung.

Es gibt einen Text, der dem Buch vorherging, und der kurz nach nach dem Tod der Mutter entstand: In der »Zeit« schrieb Marlen Hobrack über diese Zumutung, all den Schrott und Ballast entsorgen zu müssen, den ihr die Mutter hinterlassen hatte. Es ist ein ungeheuer emotionaler, auch selbstgerechter, verletzter, aber auch die Mutter herabsetzender Text gewesen, ein Wutschrei. Es lohnt sich, neben dem Buch auch den Artikel zu lesen, um zu sehen, wie umfassend Marlen Hobracks Arbeit gewesen ist, aus dieser Wut und diesem Ärger herauszukommen. Um in ein Verzeihen hineinzukommen, einen eigenen Frieden damit zu machen.

Ihre Methode, das zu tun, ist das Nachdenken, das darüber Lesen und darüber Schreiben. Sie informiert sich derart umfassend, dass es nicht zu einer allgemeinen Methode taugt: Dieses Buch ist ganz sicher kein Ratgeber. Aber diese ihre Methode hat den Vorteil, dass Leser*innen erstens deutlich vor Augen haben, wie viel Arbeit es sein kann, mit sich und der eigenen Geschichte – der eigenen Mutter – fertig zu werden, wenn man nicht gewillt ist, es sich allzu einfach zu machen. Und zweitens entstehen durch die Vielzahl an Bezügen und Verweisen Ansatzpunkte, von denen mindestens einige haften bleiben.

Möglich, dass das Buch ein Verrat ist, oder dass die Mutter dieses Buch als Verrat empfunden hätte. Diese ihre Mutter, die Marlen Hobrack in »Erbgut« zeichnet, ist aber doch ein facettenreicher, eigenartiger, schillernder Mensch. Ein Mensch, der in entscheidenden Situationen durchaus mutlos war, aber doch bleibt der Eindruck einer auf ihre Art tapferen Frau.

Marlen Hobrack: Erbgut. Was von meiner Mutter bleibt. Harper Collins, 240 S., geb., 24 €.

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