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Sterben ist Formsache
»Schläfer im Sand« ist ein Comic über das alltägliche Grauen von Arbeit und Flucht am Mittelmeer
Die koloniale Welt ist eine in Abteile getrennte Welt», schrieb Frantz Fanon 1961 in «Die Verdammten dieser Erde». In der Stadt des Kolonisierten wird man «irgendwo, irgendwie geboren. Man stirbt dort irgendwo, an irgendwas.» Währenddessen ist die Stadt der Kolonialisten eine «stabile Stadt, ganz aus Stein und Eisen».
Diese Stadt ist größer geworden, denn auch wenn Europa nicht mehr offiziell in den Kolonien seine Macht behauptet, merkt man diese Trennung auch in Europa selbst. So sind beispielsweise die Touristen Andalusiens und die Bewohner des Senegal getrennt durch Meer, Stacheldraht und Gewehre. Urlaub am Strand von Andalusien ist Urlaub am Friedhof Europas. Im Sand liegen, wo vor wenigen Stunden Tote angespült wurden. Die haben die Müllsammler weggeräumt, die ansonsten auch die toten Fische zur Müllkippe bringen.
Der weiße Deutsche Guero und der Mexikaner Carlos sind hier ein eingespieltes Team. Vor dem Aufstehen sammeln sie tote Fische und Müll an den Touristenstränden Andalusiens und verdienen damit ihr Geld. An den idyllischen Stränden mäandern die beiden zwischen chauvinistischem Männertalk über Frauen und Fußball und philosophischen Ausschweifungen.
Guero, stabiler Hippie mit Dreadlocks-Frisur und einer guten Prise Pathos und Schwermut, ist deutlich weniger abgeklärt als sein Kollege Carlos, der Erschießungen und Drogenkriege an der Grenze zwischen Mexiko und den USA miterlebt hat. «Wie du letztlich stirbst, ist doch ’ne reine Formsache», bringt Carlos das Thema auf den Punkt. «Sieh mal, mit dem Leben ist’s wie im Fußball: Mal endet’s mit ’nem feinen Spielzug, mal mit der Blutgrätsche. Zu Ende spielen musst du, egal wie’s aussieht. Der Tod meint es gut mit uns.»
Wenig später finden die beiden die Leiche des jungen Thenga aus dem Senegal am Strand, im Shirt der Nummer 9 von Barca – Ronaldo. Während die einen um Matches gewettet haben, ist der andere im Fußballtriktot gestorben. Die Möwen kreisen über den Stränden. Auch an Thengas Körper fressen sie. Für Guero braucht es nicht viel, um sich zum weißen Retter aufzuspielen: Eine gute Dosis Peyotl (ein mexikanischer Kaktus, der ähnliche Wirkungen wie LSD hat), und schon entscheidet er sich, den Toten nicht wie üblich zu entsorgen, sondern mit ihm aufs Meer hinauszuschippern – auf einem wackeligen Floß auf einer tödlichen Fluchtroute. Er will Thenga zu seinen Freunden zurückbringen.
Schon der Titel dieser Comicgeschichte, «Schläfer im Sand», erinnert an Arthur Rimbauds Gedicht «Der Schläfer im Tal», das einen schlafenden Soldaten in einem blühenden Tal zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 porträtiert. Der Soldat ist tot, aber die Natur um ihn blüht.
Der Comic springt zurück zu der Zeit, als Thenga noch lebte und in Dakar jeden Tag auf der Suche war nach einer Möglichkeit, Geld zu verdienen. Mal beim Fischverkäufer, beim Ringen oder als Maskenschnitzer. Thengas Vater war Fischer, doch seit die Trawler vor der Küste Senegals alles abfischen, bleibt den kleinen Fischern nichts mehr.
Sebastian Pampuch, der Szenarist dieses Buches, studierte Europäische Ethnologie, Neuere deutsche Literatur und Spanisch und forschte zu Lebensgeschichten südafrikanischer und malawischer Freiheitskämpfer, die in der DDR im Exil lebten. Sein Kollege Andreas Hedrich, der für die Gestaltung des Bandes zuständig war, arbeitet als Zeichner, Maler und Bildhauer. Wie Pampuch gegenüber dem «Tagesspiegel» erklärte, soll ihr Buch ein «engagierter Polit-Comic» sein, der sich verschiedener Genre-Traditionen wie der «surrealen Reise- und Abenteuergeschichte» und der «Groteske» bediene.
In der Tat machen die Bilder das Lesen schwer. Zurücklehnen kann man sich nicht. Die Texte und Zeichnungen sind kompliziert angeordnet. Die Figuren sehen sich ähnlich und verschwimmen in schwungvollen Farbflächen. Auf 90 Seiten werden fast 20 Figuren eingeführt. Die Situationen wechseln schnell und lassen keine Zeit zum Durchatmen und Orientieren. Das mag Leserinnen ud Leser abschrecken, es kann jedoch auch gewollt sein, dass dies eben keine Geschichte zum Runterlesen ist, sondern eine Geschichte, die einen beschäftigen soll. Die es gerade den europäischen Lesern nicht einfach macht, sich in den vielen für sie fremden Worten und aztekischen oder Baule-Traditionen zurechtzufinden.
46 400 Menschen aus Subsahara-Afrika flohen allein in diesem Jahr nach Spanien, der Großteil von ihnen auf die Kanaren, eine sehr gefährliche Route im Atlantik. Viele andere versuchen es, wie Thenga, durch die Wüste nach Marokko und von dort nach Andalusien. Bei der Überfahrt starben laut dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen UNHCR in diesem Jahr mehr als 1000 Menschen. Auf dem Weg durch die Sahara sterben jährlich rund 10 000.
«Schläfer im Sand» lässt sich jedoch nicht von Pathos oder Mitleid davontragen. Zu «Lazarus Man», einem Song des US-amerikanischen Folk- und Jazz-Gitarristen Terry Callier, geht es um die Normalität des Alltags, die das Grauen übertüncht, das Menschen dazu bringt, sich auf den Weg nach Europa zu machen.
Andreas Hedrich/Sebastian Pampuch: Schläfer im Sand. Unrast, 92 S., br., 16 €.
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