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»Teil eines türkischen Plans«
Hesen Koçer, von der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens, über den Vormarsch der islamistischen Milizen
Am 27. November haben bewaffnete Milizen die Region Aleppo angegriffen und die Stadt eingenommen. Können Sie für uns einordnen, von wem die Angriffe durchgeführt werden, warum sie jetzt stattfinden und welches Ziel sie haben?
Diese Angriffe wurden in Abstimmung mit internationalen Kräften durchgeführt. Der türkische Staat hat mit Geheimdienstinformationen, militärischer Ausbildung und Versorgung mit Waffen diese Angriffe mit vorbereitet. Nachdem die Vorbereitungen abgeschlossen waren, haben die Angriffe begonnen. Die involvierten Kräfte sind vor allem die islamistischen Gruppen Al-Nusra-Front und Haiat Tahrir Al-Scham (HTS). International werden diese als Terrororganisation angesehen, weil sie Teil von Al-Qaida sind, aus der wiederum der Islamische Staat (IS) hervorgegangen ist. Diese Gruppen haben begonnen, die Vororte um Aleppo und die Stadt selbst anzugreifen.
Warum finden diese Angriffe gerade jetzt statt?
Für uns ist klar, dass hinter diesen Angriffen der türkische Staat steht, auch wenn die Türkei selbst behauptet, damit nichts zu tun zu haben. Idlib selbst steht unter Kontrolle der Türkei und dort wurden auch die Angriffe vorbereitet. Nachdem Aleppo eingenommen wurde, wurde im Stadtzentrum auf der Zitadelle die türkische Fahne gehisst. Die Angriffe sind Teil eines türkischen Plans. Daran beteiligen sich auch andere Gruppen, die aus dem IS hervorgegangen sind und 2019 die kurdische Politikerin Hevrîn Xelef ermordet haben. Die Region, die diese Gruppen unter ihre Kontrolle gebracht haben, wird unserer Einschätzung nach eine Region, in der der Terror regieren wird. Viele Personen, die früher für den IS gekämpft haben, nehmen in der Operation ihren Platz ein.
Hesen Koçer ist der stellvertretende Ko-Vorsitzende des Exekutiv-Rates der Autonomen Administration Nord- und Ostsyriens (AANES), die vormals auch als Rojava bekannt war.
Und was ist das Ziel der Angreifer?
Über die Ziele der Operation gibt es verschiedene Meinungen. Am weitesten verbreitet ist die Analyse, dass die Hisbollah und der Iran in der Region Aleppo geschwächt werden sollen. Unserer Meinung nach geht es der Türkei darum, die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens einzukreisen und später anzugreifen. Gleichzeitig haben internationale Kräfte das Ziel, den Iran zu schwächen; lokale Kräfte nutzen die Chance, um das syrische Regime und den Machthaber Baschar Al-Assad zu schwächen. Das syrische Regime hat keinen Widerstand gegen die Angriffe geleistet, weil es ohne den Iran und Russland dazu nicht in der Lage ist. Und die beiden Assad-Verbündeten haben keine Unterstützung für das Regime geleistet. Für uns steht fest, dass die Türkei zum Ziel hat, auch andere Teile der Selbstverwaltung wie Minbic und Kobane mithilfe derselben Kräfte zu bedrohen. Das hat man auch im Stadtteil Scheikh Maqsud in Aleppo und in der Region Schehba gesehen, wo größtenteils Kurden leben, die eingekreist wurden, um den Willen der Menschen zu brechen. Dort haben die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und vor allem die Befreiungskräfte Afrins (HRE) Widerstand gegen Tausende von Feinden geleistet.
Am Freitagabend gelang es bewaffneten Kräften der Autonomen Administration Nord- und Ostsyriens (AANES) einen Korridor vom Euphrat bis nach Aleppo zu etablieren und damit die Gebiete mit der Region um Tel Rifaat zu verbinden. Was war der Anlass für diese Intervention und wie sieht die Lage Ihrer Kenntnis nach aus?
Sowohl der Stadtteil Scheikh Maqsoud als auch die Region Schehba sind umzingelt. Deshalb wurde die Entscheidung getroffen, die Menschen zu evakuieren und in die östlich vom Fluss Euphrat gelegenen Regionen zu bringen. Die Volksräte haben diesen Beschluss gefasst, um ein Massaker zu verhindern. Die angreifenden Gruppen sind islamistische Söldner und in den Gebieten, die seit den türkischen Operationen 2018 und 2019 unter ihrer Kontrolle stehen, sind Vergewaltigungen, Diebstahl, Entführungen und Folter an der Tagesordnung. Um den Menschen aus Schehba dieses Schicksal zu ersparen, wurde die Entscheidung getroffen, sie zu evakuieren. Dafür wurde der Krisenzustand ausgerufen und ein Krisenstab eingerichtet. Alles wurde in Bewegung gesetzt, um den Menschen zu helfen. Diese Menschen sind zuerst aus dem Kanton Afrin nach dessen Besatzung 2018 geflohen und haben selbst in Schehba unter der Einkreisung und dem Embargo des syrischen Regimes gelitten. Alle Hebel wurden in Bewegung gesetzt, um den Menschen noch Schlimmeres zu ersparen.
Die Autonome Administration hat am Sonntagabend die Generalmobilmachung ausgerufen. Auch Russland und die Haschd-Al-Schaabi-Miliz aus dem Irak sind mittlerweile in die Kampfhandlungen eingetreten. Was denken Sie, wie sich die Lage weiter entwickeln wird?
Es besteht die Möglichkeit, dass unsere Gebiete weiter angegriffen werden. Deshalb haben wir den Ausnahmezustand verkündet, damit sich die Menschen und unsere militärischen Kräfte bereithalten. Ganz konkret ist die Stadt Minbic bedroht, da es dort ein Gefängnis gibt, in dem Angehörige des Islamischen Staates eingesperrt sind. Der Irak und wiederum dessen schiitische Miliz Haschd Al-Shaabi haben Angst davor, dass sie und ihre Verbündeten ins Schussfeld geraten könnten. Der Irak hat auch Angst, dass ihn der Krieg erreichen könnte. Die islamistischen Milizen haben gezeigt, dass sie keinen Halt machen. Sie haben Aleppo eingenommen, weitere Städte und wollen vielleicht sogar bis Damaskus gelangen. Der türkische Staat hingegen zielt darauf ab, die Autonome Administration entweder zu schwächen oder gar zu vernichten. Diese Situation ist für uns brandgefährlich.
Was erwarten Sie von der internationalen Anti-IS-Koalition?
Die internationale Koalition, zu der Staaten wie die USA, England und auch Deutschland gehören, muss wissen, dass sich im Falle anhaltender Angriffe der Türkei und von deren islamistischen Verbündeten der IS wieder regenerieren kann. Erst heute gab es in Raqqa wieder einen Angriff des IS auf eine Verkehrskontrolle. Die Staaten, die der internationalen Koalition angehören, müssen sich gut überlegen, was passieren wird, wenn das so weiter geht. Nicht nur in Minbic und in Raqqa gibt es IS-Gefängnisse, sondern auch in Tabqa, in Heseke und in Qamishlo. Die Milizen, die heute an den Angriffen beteiligt sind, sind nicht nur aus dem IS hervorgegangen, sondern fühlen sich noch immer mit ihm verbunden. Wenn der IS sich reorganisiert, dann kommen wir zu demselben Punkt, an dem wir schon einmal waren, und müssen uns wieder die Frage stellen: »Wie bekämpfen wir den IS?« Wir als Autonome Administration und die Menschen unserer Region treffen jedenfalls Vorbereitungen für die Selbstverteidigung. Wenn uns jemand angreift, werden wir nach dem Prinzip der legitimen Selbstverteidigung antworten.
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