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Heterobeziehungen und Pranger: Das Jahr der Anti-Girlfriends
Nadia Shehadeh blickt zurück auf Dinge, die 2024 das Internet beschäftigt haben - und oft nicht zugunsten der Männer ausgingen
Wenn man sich die Internetmomente 2024 in Bezug auf Hetero-Romantik rückblickend anschaut, wird man feststellen: Es gab unheimlich viele skurrile Karambolage-Momente, die oft nicht zugunsten der Männer ausgingen. Anfang des Jahres erzählte eine bis dahin unbekannte Frau stundenlang auf TikTok, wie sie einem betrügerischen Lügner auf den Leim gegangen war. Diesen hatte sie leider auch voreilig geheiratet und ein paar andere Warnsignale übersehen wie sie selbstkritisch einräumte. Dafür gab es in der gemeinen Internetwelt überraschend wenig Häme, sondern viel globalen Beifall. Tareasa Johnson hieß die begnadete Erzählerin, die mit ihrer Videoclipserie »Who The Fuck Did I Marry?« Millionen Zuhörer*innen begeisterte und dadurch weltweiten TikTok-Ruhm erlangte. Die eigenen romantischen Erlebnisse als True Crime-Format zu verpacken erwies sich hier als Glücksgriff – und das Publikum als dankbar. In den Erzählungen von Johnson, die auf TikTok unter Reesa Teesa firmiert, fanden sich anscheinend viele wieder.
Im Frühling ging es munter weiter mit der Frage, warum man sich als Frau das andere Geschlecht überhaupt noch antun sollte: »Bär oder Mann?« – darüber stritt das Internet. Als Frau lieber mit einem Bär alleine im Wald oder alleine mit dem anderen Geschlecht? Hier fiel das Urteil oft zugunsten der Tierwelt aus, und das schmeckte natürlich nicht allen. Die Gemüter waren erhitzt.
Im Sommer gruselte man sich dann ein bisschen vor den Tradwives (und vor allem deren Ehemännern). Und es kam hier und da auch Mitleid auf für die fleißigen Heimchen am Herd. Was die superreichen Influencerinnen-Tradwives betraf, hätten sich einige noch den Reichtum und das beschauliche Leben auf einer Farm vorstellen können – aber bitte ohne den nervigen Ehemann und ohne das sinnlose Knechten für den Erhalt patriarchaler Traditionen.
Nadia Shehadeh ist Soziologin und Autorin, wohnt in Bielefeld und lebt für Live-Musik, Pop-Absurditäten und Deko-Ramsch. Sie war lange Kolumnistin des »Missy Magazine« und ist außerdem seit vielen Jahren Mitbetreiberin des Blogs Mädchenmannschaft. Zuletzt hat Shehadeh bei Ullstein das Buch »Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen« veröffentlicht. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Pop-Richtfest«.
Im Sommerloch fiel dann ein anderes Thema wie ein heißes Eisen ins kalte Wasser: Die »Male Loneliness Epidemic« – also das Phänomen vereinsamter Männer, die in ihrer Lebensbilanz weder romantische Partnerschaften noch stabile freundschaftliche Beziehungen aufweisen können. »Selber schuld!«, lautete das Fazit vieler Frauen, von denen einige im Herbst und vor allem nach der Trump-Wiederwahl statt Dating einen südkoreanischen Trend für sich entdeckten: Die »4b«-Bewegung, die sich bereits um die 2010er Jahre in Südkorea auf Twitter und der Webseite »Womad« formiert hatte. Die Bewegung fußt auf vier Grundprinzipien, die alle mit dem koreanischen »bi« beginnen: Frau soll Männer nicht daten, nicht intim mit ihnen werden, sie nicht heiraten und auch keine Kinder mit ihnen in die Welt setzen. Tatsächlich ist die »4b«-Bewegung mit Mitgliedern im mittleren vierstelligen Bereich in Südkorea faktisch ein Nischenphänomen – aber eines mit globaler Reichweite.
US-amerikanische Frauen predigten nach den Ergebnissen der US-Wahl im Internet, »4b« im privaten Alltag zu implementieren – nicht nur, um ein Zeichen gegen das Patriarchat zu setzen, sondern auch, um sich in einer Gesellschaft, in der die (auch reproduktiven) Rechte von Frauen zukünftig wahrscheinlich noch stärker eingeschränkt werden, zu schützen. Vor allem für junge Single-Frauen anscheinend eine leicht umsetzbare Strategie – auch, weil der Dating-Markt sich für viele aktuell anscheinend als Qual erweist.
Im Hintergrund dieser Internetdebatten predigten weibliche Dating-Coaches wie die mittlerweile ebenfalls weltweit bekannte US-amerikanische Influencerin Shera Seven ganzjährig, sich nur finanziell stabilen und zuverlässigen Männern zuzuwenden. Ihr Markenzeichen, ihre Tipps mit einem schelmischen »sprinkle, sprinkle« abzuschließen, wurde für ihre Bewundererinnen zum Internet-Fangesang, während andere Seven dafür anprangerten, gefährliche Hypergamie-Ratschläge zu geben, die Frauen in weitere finanzielle und emotionale Abhängigkeiten stürzen könnten. »Funds statt fun« betont Seven immer wieder, also quasi: »Spaß vergeht, Hektar besteht«. Was viele aufregte, ließ andere vermuten, dass Seven mit ihren Tipps junge Frauen insgeheim dazu ermutigen wolle, sich auf sich selbst zu konzentrieren und zu erkennen, dass rein mathematisch die freie Wildbahn trotz »Male Loneliness Epidemic« nicht die allerbesten Partien (zumindest in in Bezug auf Hektar) zu bieten hat. Verbreitet Seven also vielleicht insgeheim die Ideen der 4b-Bewegung, indem sie eine Zielgruppe anvisiert, die immer noch auf stabile und zufriedenstellende Paarungserlebnisse hofft und ihr deswegen bereitwillig zuhört? Man weiß es nicht.
Nun klingt das Internetjahr 2024 aus, und der bisher letzte Trend des Internet-Dating-Prangers ist der Hashtag »#womeninmalefields« – ein auf den ersten Blick klamaukiger Spaß mit ernstem Hintergrund: Frauen imitieren hier die Sprecherpositionen von Männern und unterstreichen dadurch die Absurdität einiger »male fields«. Aus den USA schwappte der Trend schnell in den deutschsprachigen Bereich – und aus der Dating-Hemisphäre auch in andere Bereiche wie Politik und Kultur. »Väter sind die beste Betreuungseinrichtung« oder »Männer sind Menschen wie wir«. Die Vorsitzende der Grünen Frauen Österreich, Meri Disoski, musste sich die Kalauer nicht mal ausdenken, sondern verwurstete einfach Zitate von Politiker-Kollegen.
2024 war sicherlich bis jetzt kein Jahr, das im Zeichen der Hetero-Liebe stand – dafür war alles zu schlimm und zu beschwerlich. Und vielleicht ist das auch die Quinteessenz des Internet-Dating-Prangers: Dass man bei allen Problemen, die die Welt derzeit anzubieten hat, keine Kraft für weitere unangenehme Baustellen hat. Und wenn man sich doch mit ihnen abplagen muss, dann vielleicht indem man sich mit anderen Leidensgenossinnen darüber austauscht: Geteiltes Leid ist schließlich halbes Leid.
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